Russland aus unserer Erinnerung

Mit 6 Jahren kamen wir in die 1. Klasse einer Gesamtschule. Diese ging von 1-10 Schuljahr, die ersten 5Jahre fing die Schule um 14,00Uhr an. Ab der 5 Klasse waren die Schulzeiten von 8.00-13.00Uhr und von 14.00-18.00. In der Schule wurden 2 Sprachen angeboten (Französisch und Englisch.) Der Stundenplan beinhaltete kein Religionsunterricht, weil die Kirche zur der Zeit nicht anerkannt wurde. Uniform war Pflicht. Von den Schülern wurde mehr Leistung verlangt. Der Lernstoffinhalt innerhalb eines Jahres war viel anspruchsvoller, als hier in Deutschland. Von den Lehrern wurde verlangt den Schülern strenge Disziplin beizubringen. Die Schüler wurden streng erzogen. Es gab insgesamt zwei große Ferien. Im Winter 2Wochen und im Sommer 3 Monate (1.6-1.9.). Der 1.September war offiziell Schulbeginn im ganzen Land. Das Fehlen in der Schule wurde nur durch eine Arztbescheinigung entschuldigt. Religiöse Feste wurden nur innerhalb der Familien gefeiert, als Feiertage wurden sie nicht akzeptiert. Den größten Teil unserer Freizeit verbrachten wir meistens draußen mit unseren Freunden. Geld wurde nicht benötigt.

Sylvester war eines der bedeutensten Feste überhaupt. Alle verkleideten sich und beschenkten sich gegenseitig. Mit 10Jahren wanderten wir nach Deutschland aus. Bis wir dazu imstande waren verging ein halbes Jahrzehnt. Die Ankunft in Deutschland erschreckte und ängstigte uns. Wir mussten alles hinter uns lassen, und versuchten hier neu anzufangen.

Sylvester 1989

Russland ist anders. Dieser Satz, häufig zitiert, ist die einzige verlässliche Aussage, die man über dieses Land machen kann. Außer vielleicht noch: Niemand, der je mit Russland in Berührung kam, hat dieses Land gleichgültig gelassen. Manche, die es auf welchen Wegen auch immer dorthin verschlug, hat es ewig abgestoßen. Die anderen, und das sind wohl weitaus mehr, hat es für den Rest ihres Lebens in seine Bann geschlagen.

Den antiken Historikern galten die Völker des Ostens als wilde Barbaren. Eine Vorstellung, die sich über das Mittelalter, die Renaissance und die Aufklärung bis heute in den Köpfen vieler erhalten hat.

Auch die ersten deutschen Beschreibungen der Russen schilderten vor allem die tyrannische Herrschaft der Zaren, der tyrannische Gebrauch ihrer Macht, die Greultaten Iwans des Schrecklichen, das verschwenderische Treiben der russischen Adligen und Kaufleute, das Bild des „ wilden Moskowiters". Und zaristische Willkür und stalinistischer Terror haben das ihre beigetragen, dieses Bild bis in die Gegenwart lebendig zu erhalten.

Dabei ist das Wissen der Deutschen über Russland und die Russen, ihre Kultur und Geschichte bis auf den heutigen Tag äußerst beschränkt. Einer der Gründe dafür liegt sicher in der mehr als 200 Jahre dauernder Herrschaft der Mongolen über Russland, die das Land gründlich von West- und Mitteleuropa isolierten. Eine Isolierung, die sich auch unter den Zaren danach, mit Ausnahme Peters des Großen und Katharinas II, fortsetze. Und die unter den sowjetischen Zaren des 20. Jahrhunderts einen traurigen Höhepunkt erreichte. Bis Michael Gorbatschow ihr mit seinem „Neuen Denken", seiner Öffnung nach Westen ein Ende setzte. Die Unwissenheit und die Vorurteile der Deutschen über Russland und die Russen wurzeln aber auch in jenem Hochmut der Überlegenheit, der in den Völkern des europäischen Ostens schließlich nur noch die „ Untermenschen" sah. Während in Russland Heinrich Böll und Heinrich Heine fast jedem Schulkind ein Begriff sind, sind in Deutschland ein Puschkin oder ein Bulgakow nach wie vor nur wenigen Eingeweihten bekannt. In Sankt Petersburg und Moskau war vor der Revolution – neben Französisch - Deutsch die Sprache der Intelligenzija, waren deutsche Schulen, das deutsche Gymnasium die bevorzugten Ausbildungsstätten der russischen „gebildeten Stände". Und selbst während des 2. Weltkriegs wurden an russischen Theatern Stücke von Goethe und Schiller gespielt, während in großdeutschen Konzertsälen nicht einmall Tschaikowski erklingen durfte.

Den großen Beitrag Russlands zur europäischen und zur Weltkultur gilt es noch immer zu entdecken, ebenso wie das Land in seiner Vielfalt, die Menschen in all ihrer Widersprüchlichkeit.

Russland, dieses Land im Osten, empfinden viele noch immer als Bedrohung. Seine Menschen sind ihnen rätselhaft, die politischen Bestreben unheimlich. Selbst heute, da die Sowjetunion zerfallen ist, herrscht vielerorts noch immer tiefes Misstrauen gegen Entwicklungen, die der gewaltige Nachbar auf der Grenze zwischen Europa und Asien nehmen könnte. Die Russen, so ein weitverbreiteter Stereotyp, hatte keinerlei Erfahrung mit Demokratie.

Sommer 1999 Sommer 1999
1999 1999

Die unendlichen Weiten unberührter Natur, Birkenwälder, Seen und Flüsse, sind noch immer so schön und romantisch, wie sie in den russischen Liedern besungen werden. In den Städten werden die erhaltenen Zeugnisse russischer Baukunst, wenn auch zunächst nur in bescheidenem Umfang, so doch liebevoll restauriert. Die Kuppeln vieler Kirchen erstrahlen wieder im Glanz neu aufgetragenen Blattgolds. Viele Menschen, vor allem in der jüngeren Generation machen sich nun, da die Grenzen gefallen sind, geistig auf einen neuen Weg. Auf den Weg nach Europa, und in die weite Welt.