EDUVINET HOME Beiträge der deutschen Geschichte des 18. und 19. Jahrhunderts zu Europa




By Prof. Dr. Wolfgang Weber, University of Augsburg, GERMANY, 1997

Contribution to the EDUVINET "European Identity" subject






Die deutsche Geschichte des 18. und 19. Jahrhunderts hat durch politisch-kulturelle Strukturbildungen und durch geistige Hervorbringungen (Ideen) sowohl zur historischen Formierung des neuzeitlichen Europa als auch zur Anhäufung eines europäischen Erfahrungsschatzes beigetragen, der für die künftige Gestaltung Europas von Bedeutung sein kann. Diese Beiträge erfolgten direkt und/oder indirekt, absichtlich und/oder unabsichtlich; im 19. Jahrhundert als dem Jahrhundert des Nationalismus waren viele von ihnen wesentlich gegen Europas Einheit gerichtet. Als ihre wesentliche Voraussetzung muß die nicht eigentlich geographisch-naturräumlich, sondern historisch-mächtepolitisch seit dem Aufstieg der westeuropäischen Randstaaten im Spätmittelalter hervorgebrachte Mittellage angesehen werden:
kulturell fungiert Deutschland als Ort des Austauschs und der Mischung aller wesentlichen europäischen Informationen und Impulse; staatlich-politisch wird es von allen Machtakkumulations- und gegebenenfalls Expansionstendenzen der sie umgebenden Randstaaten erfaßt.




1. Vom Anbruch der Moderne (ca. 1750) bis zum Ende des Alten Reiches (1806):

Die Schlußphase des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation war von wachsendem Antagonismus der beiden Flügelmächte Hohenzollern-Preußen und Habsburg-Österreich Niedergang der Reichsinstitutionen und beschleunigtem Zerfall, schließlich Zerschlagung von außen gekennzeichnet. Die Wahrnehmung und Verarbeitung dieser Entwicklungen erfolgte wie üblich im Medium eigener Erfahrungen und von außen kommender Impulse. Besonders relevante Reaktionsformen waren: versuchte Wiederbelebung und Stärkung innerer Einheit durch Beschwörung der überkommenen gemeinchristlichen Verpflichtungen des Reiches (vgl. Q 1); mythisch-romantische Glorifizierung angeblich vorhanden gewesener mittelalterlich-christlicher Größe (Q 3); kulturelle Einheitsstiftung gegen den politischen Zerfall oder als wünschbare Konsequenz dezentralisierter politischer Organisation, d.h. der bundesstaatlichen (föderativen) Verfassung als Spezifikum und vornehmste Errungenschaft des Reiches (Q 2, 6); Übertragung des Föderativprinzips des Reiches als Gleichgewichtsordnung auf ganz Europa (Q 5); Beschwörung der Kultur als gegenüber der Politik wichtigere Größe und Transformation jeglichen politischen Konflikts in friedlichen kulturellen Wettbewerb (Q 4); Aufhebung jeglichen politischen Konflikts in friedlich-vernünftigem Kosmopolitismus (z.B. Kant); Nationalstaatsstiftung und Ermöglichung europäischer Völkerfreundschaft durch revolutionäre Durchsetzung von Volkssouveränität und Demokratie (deutsche Jakobiner).




2. Von der Napoleonischen Neuordnung und der Reformära bis zur gescheiterten bürgerlichen Revolution:

An die Auflösung des Alten Reiches schloß sich eine grundlegende Veränderung der deutschen Landkarte, die aus dem strategischen Neuordnungsinteresse Napoleons und spezifischen Expansionsinteressen deutscher Fürsten hervorging und eine massive Stärkung deutscher Mittelstaaten auf Kosten kirchlichen Besitzes, kleinerer Fürsten und der beiden deutschen Flügelmächte bedeutete. Parallel dazu entschlossen sich die Herrscher der Rheinbundstaaten, süddeutscher Staaten und Preußens zur Modernisierung ihrer politischen, ökonomischen und (partiell) sozialen Verhältnisse vor allem nach französischem Vorbild, um zu beschleunigtem eigenen Machtaufstieg fähig zu werden. Die Erhebung und militärische Niederwerfung Napoleons 1812-15 trugen indessen (wenngleich publizistisch übersteigerte) Züge eines nationalen Befreiungskriegs. Die Fürsten waren daher trotz ihres Wiener Restaurationsversuchs (und der Staatenbundgründung des Deutschen Bundes schon 1806) nicht mehr in der Lage, die (in sich vielfach gegliederte) nationale Bewegung völlig zu ignorieren. Während sie kulturell in konservativen Varianten u.a. in der vorbildlichen preußischen Universitäts- und Bildungsreform zum Tragen kommen konnte, führte der sich beschleunigende Zyklus taktischer Zugeständnisse, zunehmender Repression und Radikalisierung schließlich dazu, daß sich das (mangels nationaler Ökonomie) relativ unterentwickelte Besitzbürgertum und das (beruflich und mentalitär relativ staatsnahe, angesichts der hohen Zahl verschiedener Staaten entsprechend starke) Bildungsbürgertum 1848 doch noch der in Frankreich bereits siegreichen Revolution anschloß. Die Furcht vor revolutionärer Konsequenz insbesondere im Hinblick auf die Lösung des preußisch-österreichischen Gegensatzes ließ den evolutionären Nationalstaatsgründungsversuch des liberalen Paulskirchenparlaments scheitern und bestärkte die Vormachtrolle Preußens. In getreuer Spiegelung der realhistorischen Dynamik der Epoche, wechselten sich in der Ideenproduktion ältere Vorstellungen mit variablen neuen Ansätzen ab, insgesamt trat jedoch die intern-nationale Perspektive in den Vordergrund, während der europäische Zusammenhang vorübergehende Abschwächung erfuhr. Unter den diversen Positionen ragten hervor: gegenüber dem radikalen Jakobinertum im Hinblick auf Volkssouveränität und Demokratie abgeschwächte bürgerlich-liberale Nationalstaatskonzeptionen; künstlerische Abneigung gegen die Gründung eines zentralisierten Nationalstaats aus Furcht vor Verlust kultureller Multizentralität (Q 6); Einsicht in die Notwendigkeit der Fortentwicklung der traditionellen, wiederbelebten Reichsverfassungsform Staatenbund zumindest zum Bundesstaat (Q 7); Entdeckung des Wirtschaftsinteresses und der Dynamik moderner Wirtschaft als Beschleunigungsfaktoren und Unterpfand zuerst nationalen Zusammenschlusses, dann europäischer bzw. universaler föderativer Vereinigung (Q 8); Konzipierung der Hervorbringung hoher, d.h. auch politische Gegensätze entschärfender nationaler Kultur als notwendige Vorstufe zur Hervorbringung hoher menschheitlicher Kultur, wieder mit Föderalismus als Zielgröße (Q 9).




3. Vom innerdeutschen Aufstieg Preußens zu Gründung (1871) und Aufstieg des preußisch-kleindeutschen Nationalstaats (um 1900):

Nach dem Scheitern der bürgerlich-liberalen parlamentarischen Nationalstaatsgründung und wachsender Wahrnehmung äußerer Bedrohung Deutschlands gewann die Alternative an Plausibilität, die stärkste deutsche Teilmacht, Preußen, trotz deren problematischer Verfassung und erwiesener Aggressivität nach außen, mit der Nationalstaatsgründung zu betrauen. Die preußischen Eliten hatten längst erkannt, welche Chancen für sie in dieser Lösung lagen. In einer beispiellosen kulturell-politischen Offensive, die eine entsprechende Uminterpretation der gesamten preußischen und deutschen Geschichte einschloß, überzeugten sie die Eliten der übrigen deutschen Staaten von der Richtigkeit dieses Verfahrens. Die Gründung des preußisch-kleindeutschen Nationalstaates konnte dann auf Initiative von oben, auf der Grundlage eines militärischen Triumphs über Frankreich, zu territorialen Lasten Frankreichs und formal in Gestalt eines Beitritts des übrigen Deutschland zum preußisch geführten Norddeutschen Bund erfolgen. Diese problematischen Anfänge setzten die Gründungsbetreiber unter unablässigen Erfolgszwang. Zu den Erfolgen positiver Integrationspolitik gehörte die europäisch und weltweit bis heute vorbildliche Sozialversicherung. Aus negativer Integrationspolitik erwuchsen der Kulturkampf gegen die katholische Kirche und der Kampf gegen den Sozialismus, die beide die eigentlich erstrebte Integration ihrer jeweiligen Bezugsgruppen verzögerten. Bis zum Rücktritt Bismarcks 1890 konnte das Reich zudem seine zur Sicherung der eigenen, neuen Position unabdingbare Rolle eines saturierten, auf friedlichen Ausgleich bedachten Akteurs im europäischen Staatensystem zur Rolle eines anerkannten internationalen Maklers ausbauen. Danach gaben sich die Entscheidungsträger angesichts wachsender innerer Probleme und sich verschärfender internationaler Staatenkonkurrenz mit dieser konsolidierenden Aufgabe nicht mehr zufrieden. Sie begannen stattdessen, eine eindeutige europäische Hegemonialstellung und über diese Hegemonialstellung hinaus eine Weltmachtrolle anzustreben. Europa sollte dementsprechend zur ökonomisch-politischen Verfügungsmasse und zum militärischen Exerzierfeld für die gewalttätige Weltmacht Deutschland herabsinken. Die Wahrnehmung und Beurteilung Europas in dieser Periode erfolgte ganz überwiegend unter der preußischen Perspektive: machtpolitische Aufladung des deutschen Nationalismus, um Preußen als für Deutschland und ein preußisch geführtes, machtvolles Deutschland als für Europa unentbehrlich ausweisen zu können (Q 10, 12, 14); Legitimierung der (konstitutionel-len) Monarchie als für die nationale Machtbildung (und damit auch für das internationale Staatensystem) unverzichtbare Staatsform (Q 12); rassistische Radikalisierung des deutschen Nationalismus und europäische Identitätsstftung unter rassistisch-deutschen Vorzeichen (Q 12, 14). Aber auch abweichende, zukunftsweisende Konzeptionen entstanden: Auflösung aller unitarischen Zentralstaaten zugunsten freiheitlicher, föderativer Kleinstaaten und Sicherung dieser Lösung durch Bildung und Kultur (Q 11); Abschaffung des Nationalitätsprinzips zugunsten freier Selbstbestimmung in föderativ verfassten Staaten (Q 13).







Quellen




1. 1670

Das Römische Reich ist ein Land so vor sich selbst besteht, und in deßen Macht ist glückselig zu seyn wenn es will. Denn es weder dem Lande an Leuten zu Beschützung, noch den Leuten an Land zu Unterhaltung mangelt. Die Leute sind herzhaft und verständig, das Land groß und fruchtbar genugsam, also daß die Menge der Waren der Kunst und Verstand, die Kunst zu verarbeiten und Verstand zu verführen den Waren nicht weichet (S. 935).

Das Reich ist das Haupt-Glied, Teutschland das Mittel von Europa, Teutschland ist vor diesen allen seinen Nachbarn ein Schrecken gewesen, iezo sind durch seine Uneinigkeit Frankchreich und Spanien formidabel worden, Holland und Schweden gewachsen. Teutschland ist der Ball, der einander zugeworffen die umb die Monarchie gespielt. Teutschland ist der Kampfplatz, darauf man umb die Meisterschafft von Europa gefochten. Kürzlich Teutschland wird nicht aufhören seines und frembden BlutvergießensMateria zu seyn bis es aufgewacht, sich recollogiert, sich vereinigt, und allen procis die Hoffnung es zu gewinnen abgeschnitten. Als denn werden unsre Sacen ein ander Aussehen haben, man wird allmählich an der beyderseits projectierten Monarchie ganz verzweifeln, ganz Europa wird sich zur Ruhe begeben, in sich selbst zu wüten aufhören, und die Augen dahin werfen, wo so viel Ehre, Sieg Nutzen, Reichthum mit gutem Gewißen auf eine Gott angenehme Art zu erjagen. Es wird sich ein ander Streit erheben, nicht wie einer dem andern das Seinige abringen, sondern wer am meisten dem Erbfeind, dem Barbaren, dem Unglaubigen abgewinnen, und nicht allein sein, sondern auch Christi Reich erweitern könne.

Zu diesem glücklichen Zustande der Christenheit kann derjenige den Grund legen helffen, der dieses bisher ausgeführte, zu Ruhe und Sicherheit Teutschlands so nöthige allkräftige Werk befördern hilft. Denn wenn Teutschland dadurch unüberwindlich gemacht, wenn, wie gedacht, alle Hoffnung es zu dämpfen verschwinden wird, wird sich die Bellicosität seiner Nachbarn nach eines Stromes Art, der wider einen Berg trifft, auf eine andre Seite wenden (S. 977-78).


(G. W. F. Leibniz: Bedencken zur Sicherheit des deutschen Reiches (1670), in: Notker Hammerstein (Hg.): Staatslehre der frühen Neuzeit, Frankfurt a.M. 1992).





2. 1784/91

Ehe wir zu jenem Gebäude treten, das unter dem Namen der europäischen Republik berühmt und durch seine Wirkungen auf die ganze Erde merkwürdig oder furchtbar geworden, so lasset uns zuerst die Völker kennen lernen, die zu dem Bau dieses großen Riesentempels tätig oder leidend beitrugen. (S. 219)

Wir treten zu dem Völkerstamm, der durch seine Größe und Leibesstärke, durch seinen unternehmenden, kühnen und ausdauernden Kriegsmut, durch seinen dienenden Heldengeist, Anführern wohin es sei, im Heer zu folgen und die bezwungenen Länder als Beute unter sich zu teilen, mithin durch seine Eroberungen, und die Verfassung, die allenthalben umher nach deutscher Art errichtet ward, zum Wohl und Weh dieses Weltteils mehr als alle andren Völker beigetragen. (S. 222)

Noch jetzt regieren sie, teils durch die Fürsten, die sie allen Thronen Europas gegen, teils durch diese von ihnen errichteten Throne selbst, als Besitzer, oder im Gewerbe und Handel mehr oder minder alle vier Weltteile der Erde. Da nun keine Wirkung ohne Ursache ist, so muß auch diese ungeheure Folge von Wirkungen ihre Ursache haben.

Nicht wohl liegt diese im Charakter der Nation allein; ihre sowohl physische als politische Lage, ja eine Menge von Umständen, die bei keinem an dern nördlichen Volk also zusammentraf, hat zum Lauf ihrer Taten mitgewirket. (S. 223)

Sie also sind's, die den größten Teil von Europa nicht nur erobert, bepflanzt und nach ihrer Weise eingerichtet, sondrn auch beschützt und beschirmt haben; sonst hätte auch das in ihm nicht aufkommen können, was aufgekommen ist. Ihr Stand unter den andern Völkern, ihr Kriegsbund und Stammescharakter sind also die Grundfesten der Kultur, Freiheit und Sicherheit Europas geworden. (S. 224)

So ungefähr erscheint das Gemälde der Völkerschaften Europas; welch eine bunte Zusammensetzung, die noch verworrener wird, wenn man sie die Zeiten, auch nur die wir kennen, hinabbegleitet. (S. 226)

Europa ist, zumal in Vergleichung mit dem nördlichen Asien, ein milderes Land voll Ströme, Küsten, Krümmen und Buchten: schon dadurch entschied sich das Schicksal seiner Völker von jenen auf eine vorteilhafte Weise. Insonderheit aber ward die Ostsee den Nordeuropäern das, was dem südlichen Europa das Mittelländische Meer war. An der skandinavischen Küste und in der Nordsee wimmelte bald alles von Handelsleuten, Seeräubern, Reisenden und Abenteurern, die sich in alle Meere, an die Küsten und Länder aller europäischen Völker gewagt und die wunderbarsten Dinge ausgeführt haben. Die Belgen knüpften Gallien und Britannien zusammen, und auch das Mittelländische Meer blieb von Zügen der Barbaren nicht verschont: sie wallfahrteten nach Rom, sie dienten und handelten in Konstantinopel. Durch welches alles dann, weil die lange Völkerwanderung zu Lande dazu kam, endlich in diesem kleinen Weltteil die Anlage zu einem großen Nationenverein gemacht ist, zu dem ohne ihr Wissen schon die Römer durch ihre Eroberungen vorgearbeitet hatten, und der schwerlich anderswo, als hier zustande kommen konnte. Durch hundert Ursachen hat sich im Verfolg der Jahrhunderte die alte Stammesbildung mehrerer europäischer Nationen gemildert und verändert; ohne welche Verschmelzung der Allgemeingeist Europas schwerlich hätte erweckt werden mögen. (S. 227)

Von selbst hat sich kein Volk in Europa zur Kultur erhoben; jedes vielmehr hat seine alten rohen Sitten so lange beizubehalten gestrebet, als es irgend tun konnte. Kein europäisches Volk z.B. hat eigne Buchstaben gehabt oder sich selbst erfunden. Lange Zeiten brauchte dies Gewächs, ehe es auf diesem härtern Boden nur gedeihen und endlich eigne, anfangs sehr saure Früchte bringen konnte; ja auch hierzu war ein sonderbares Vehikel, eine fremde Religion nötig, um das, was die Römer durch Eroberung nicht hatten tun können, durch eine geistliche Eroberung zu vollführen. Vor allen Dingen müssen wir also dies neue Mittel der Bildung betrachten, das keinen geringern Zweck hatte, als alle Völker zu einem Volk, für diese und eine zukünftige Welt glücklich, zu bilden, und das nirgend kräftiger als in Europa wirkte. (S. 228)

Aus allem erhellet, daß die Idee der deutschen Völkerverfassung, so natürlich und edel sie an sich war, auf große, zumal eroberte lange Zeit kultivierte oder gar römisch-christliche Reiche angewandt, nichts anders als ein kühner Versuch sein konnte, dem viele Mißbräuche bevorstanden; sie mußte von mehrern Völkern voll gesunden Verstandes in der nörd- und südlichen Welt lange geübt, mannigfaltig geprüft und ausgebildet werden, ehe sie zu einiger Bestandheit kommen konnte. In kleinen Munizipalitäten, beim Gerichtshandel, und allenthalben wo lebendige Gegenwart gilt, zeigt sie sich unstreitig als die beste. Die altdeutschen Grundsätze, daß jedermann von seinesgleichen gerichtet werde, daß der Vorsitzer des Gerichts von den Besitzern das Recht nur schöpfe, daß jedes Verbrechen nur als ein Bruch der Gemeine seine Genugtuung erwarte, und nicht aus Buchstaben, sondern aus lebendiger Ansicht der Sache beurteilt werden müsse: diese samt einer Reihe anderer Gerichts-, Zunft- und andrer Gebräuche, sind Zeugen vom hellen und billigen Geist der Deutschen. Auch in Rücksicht des Staats waren die Grundsätze vom Gesamteigentum, der Gesamtwehr und gemeinen Freiheit der Nation groß und edel; da sie aber auch Männer erforderten, die alle Glieder zusammenzuhalten, zwischen allen ein Verhältnis zu treffen, und das Ganze mit einem Blick zu beleben wüßten, und diese Männer nicht nach dem Erstgeburtsrecht geboren werden, so erfolgte, was mehr oder minder allenthalben erfolgt ist; die Glieder der Nation löseten sich auf in wilden Kräften; sie unterdrückten das Unbewehrte und ersetzten den Mangel des Verstandes und Fleißes durch lange tatarische Unordnung. Indessen ist in der Geschichte der Welt die Gemeinverfassung germanischer Völker gleichsam die feste Hülse gewesen, in welcher sich die übergebliebene Kultur vorm Sturm der Zeiten schützte, der Gemeingeist Europas entwickelte und zu einer Wirkung auf alle Weltgegenden unserer Erde langsam und verborgen reifte. (S. 264)


(Johann Gottfried Herder: Ideen zur Philosophie der Geschichte der Menschheit, Berlin 1784/91)





3. 1799/1826

In Deutschland hingegen kann man schon mit voller Gewißheit die Spuren einer neuen Welt aufzeigen. Deutschland geht einen langsamen, aber sichern Gang vor den übrigen europäischen Ländern voraus. Während diese durch Krieg, Spekulation und Parteigeist beschäftigt sind, bildet sich der Deutsche mit allem Fleiß zum Genossen einer höhern Epoche der Kultur, und dieser Vorschritt muß ihm ein großes Übergewicht über die andern im Lauf der Zeit geben. In Wissenschaften und Künsten wird man eine gewaltige Gärung gewahr. Unendlich viel Geist wird entwickelt. Aus neuen, frischen Fundgruben wird gefördert. - Nie waren die Wissenschaften in besseren Händen und erregten wenigstens größere Erwartungen; die verschiedensten Seiten der Gegenstände werden ausgespürt, nichts wird ungerüttelt, unbeurteilt, undurchsucht gelassen. Alles wird bearbeitet; die Schriftsteller werden eigentümlicher und gewaltiger, jedes alte Denkmal der Geschichte, jede Kunst, jede Wissenschaft findet Freunde und wird mit neuer Liebe umarmt und fruchtbar gemacht. Eine Vielseitigkeit ohnegleichen, eine wunderbare Tiefe, eine glänzende Politur, vielumfassende Kenntnisse und eine reiche, kräftige Phantasie findet man hie und da, und oft kühn gepaart. Eine gewaltige Ahndung der schöpferischen Willkür, der Grenzenlosigkeit, der unendlichen Mannigfaltigkeit, der heiligen Eigentümlichkeit und der Allfähigkeit der innern Menschheit scheint überall rege zu werden. (...) Noch sind alles nur Andeutungen, unzusammenhängend und roh, aber sie verraten dem historischen Auge eine universelle Individualität, eine neue Geschichte, eine neue Menschheit, die süßeste Umarmung einer jungen überraschten Kirche und eines liebenden Gottes und das innige Empfängnis eines neuen Messias in ihren tausend Gliedern zugleich. (S. 51-52)

Wie, wenn auch hier wie in den Wissenschaften eine nähere und mannigfaltigere Konnexion und Berührung der europäischen Staaten zunächst der historische Zweck des Krieges wäre, wenn eine neue Regung des bisher schlummernden Europa ins Spiel käme, wenn Europa wieder erwachen wollte, wenn ein Staat der Staaten, eine politische Wissenschaftlehre uns bevorstände! Sollte etwa die Hierarchie, diese symmetrische Grundfigur der Staaten, das Prinzip des Staatenvereins als intellektuale Anschauung des politischen Ichs sein? Es ist unmöglich, daß weltliche Kräfte sich selbst ins Gleichgewicht setzen, ein drittes Element, das weltlich und überirdisch zugleich ist, kann allein diese Aufgabe lösen. Unter den streitenden Mächten kann kein Friede geschlossen werden, aller Friede ist nur Illusion, nur Waffenstillstand; auf dem Standpunkt der Kabinetter, des gemeinen Bewußtseins ist keine Vereinigung denkbar. Beide Teile haben große, notwendige Ansprüche und müssen sie machen, getrieben vom Geiste der Welt und der Menschheit. Beide sind unvertilgbare Mächte der Menschenbrust: hier die Andacht zum Altertum, die Anhänglichkeit an die geschichtliche Verfassung, die Liebe zu den Denkmalen der Altväter und der alten glorreichen Staatsfamilie und Freude des Gehorsams; dort das entzückende Gefühl der Freiheit, die unbedingte Erwartung mächtiger Wirkungskreise, die Lust am Neuen und Jungen, die zwanglose Berührung mit allen Staatsgenossen, der Stolz auf menschliche Allgemeingültigkeit, die Freude am persönlichen Recht und am Eigentum des Ganzen und das kraftvolle Bürgergefühl. Keine hoffe die andere zu vernichten, alle Eroberungen wollen hier nichts sagen, denn die innerste Hauptstadt jedes Reichs liegt nicht hinter Erdwällen und läßt sich nicht erstürmen.

Wer weiß, ob des Kriegs genug ist, aber er wird nie aufhören, wenn man nicht den Palmenzweig ergreift, den allein eine geistliche Macht darreichen kann. Es wird so lange Blut über Europa strömen, bis die Nationen ihren fürchterlichen Wahnsinn gewahr werden, der sie im Kreise herumtreibt, und von heiliger Musik getroffen und besänftigt, zu ehemaligen Altären in bunter Vermischung treten, Werke des Friedens vornehmen und ein großes Liebesmahl als Friedensfest auf den rauchenden Walstätten mit heißen Tränen gefeiert wird. Nur die Religion kann Europa wieder aufwecken und die Völker sichern und die Christenheit mit neuer Herrlichkeit sichtbar auf Erden in ihr altes, friedenstiftendes Amt installieren.

(....) Das Christentum ist dreifacher Gestalt. Eine ist als Zeugungselement der Religion, als Freude an aller Religion. eine als Mittlertum überhaupt, als Glauben an die Allfähigkeit alles Irdischen, Wein iund Brot des ewigen Lebens zu sein. eine als Glauben an Christus, seine Mutter und die Heiligen. Wählt, welche ihr wollt; wählt alle drei, es ist gleichviel, ihr werdet damit Christen und Mitglieder einer einzigen, ewigen, unaussprechlichen Gemeinde. (S. 57-59)


(Novalis [Friedrich von Hardenberg]: Hymnen an die Nacht. Die Christenheit oder Europa, Leipzig 1799/1826.)





4. 1803

Auf jeden Fall würden wir weise handeln, die allgemein verbreiteten thörichten Einbildungen von der Herrlichkeit und dem Vorrange unsers Landes, so wie die kindischen Vorurtheile von der unerhörten Vortreflichkeit unsers Zeitalters gänzlich von uns abzuthun. (S. 38)

Wenn diejenigen Theile der Erde, die wir sehr bedeutend den Orient und den Norden nennen, die sichtbaren Pole des guten Princips auf derselben bezeichnen, wogegen alles andere nur als leerer Raum, ungebildeter und roher Stoff, bestimmte Schwäche und Unfähigkeit,oder gar als entgegenstrebendes Hinderniß erscheint; so ist der Punkt auf den es eigentlich ankömmt, der, beide zu verbinden, und das dürfte kaum anders möglich seyn, als in diesem dem Anschein nach nicht sehr begünstigten Erdtheile; und in diesem Sinn könnte man wohl sagen: das eigentliche Europa muß erst noch entstehen. Was wir bisher davon kennen, jenes Phänomen der Trennung, ist nur die erste Aeußerung in der die noch zu schwache Anlage zur Verbindung des Entgegengesetzten eben darum erscheint. Wir sollen der Entwicklung auch nicht bloß unthätig zusehen, sondern selbst den thätigsten Antheil daran nehmen, wir selbst sollen mitwirken, die tellurischen Kräfte in Einheit und Harmonie zu bringen, wir sollen die Eisenkraft des Nordens, und die Lichtgluth des Orients in mächtigen Strömen überall um uns her verbreiten; moralisch oder physisch, das ist hier einerlei, wo dieser kleine Unterschied nicht mehr gilt; und so dürfen wir auch auf den unsichtbaren Beistand des Glücks hoffen, auf ein Gelingen was die Gränzen dessen, was sich strenge genommen erwarten ließ, weit überfliegen mag.

Die weitere Ausführung dieser Idee bleibt einer andern Zeit vorbehalten. Hier will ich nur noch erinnern, daß wir die Fortschritte und Annäherungen zu diesem Ziele nicht nach Jahrhunderten, sondern nach Jahrtausenden zu zählen haben, wenn wir anders verstehen wollen, was Leben und Geschichte uns deutlich besagt. (S. 39-40)


(Friedrich Schlegel, Reise nach Frankreich, in: Europa, 1(1803) Heft 1).





5. 1806

Die Sicherheit der Bürger eines Staates beruht auf der Einheit seiner Gesetzgebung und seiner Verwaltung. Die Gesetze gehen alle von demselben Mittelpunkte aus; ihre Aufrechterhaltung ist das Werk einer und derselben Gewalt, die Jeden, der sie zu verletzen geneigt wäre, durch regelmäßigen Zwang von dem unerlaubten Beginnen zurückführen, und Jeden, der sie wirklich übertrat, vor einem Richterstuhl zur Verantwortung ziehen kann. Das Gesetz, welches die Staaten untereinander verbindet, liegt blos in ihren wechselseitigen Verträgen; und so wie diese, bei der unbegränzten Mannigfaltigkeit der Verhältnisse, aus welchen die entspringen, in ihrem Wesen, Geist und Charakter unendlicher Verschiedenheit fähig sind, so schließt auch die Natur ihres Ursprunges jede höhere, gemeinschaftliche Sankzion im strengen Wortverstande aus. Es giebt zwischen unabhängigen Völkern weder eine vollziehende, noch eine richterliche Macht; die eine, wie die andere durch äußere Veranstaltungen zu schaffen, war von Alters her ein fruchtloser frommer Wunsch und manches Wohlmeinenden eitles Streben. Was aber ganz zu vollbringen, die Natur des Verhältnisses untersagte, wurde wenigstens durch Annäherung erreicht; und im Staaten=System des neuern Europa war die Aufgabe so glücklich gelöset, als von Menschen und menschlicher Kunst vernünftiger Weise erwartet werden konnte.

Es bildete sich unter den Staaten dieses Welttheils eine ausgebreitete gesellschaftliche Verbindung, deren wesentlicher und charakteristischer Zweck auf Erhaltung und wechselseitige Verbürgung der wohlerworbnen Rechte eines jeglichen ihrer Mitglieder gerichtet war. Von der Zeit an, da dieser ehrwürdige Zweck in seiner vollen Klarheit erkannt ward, entwickelten sich auch nach und nach die nothwendigen und ewigen Bedingungen, von denen seine Erreichbarkeit abhing. Man wurde gewahr, daß es in dem Verhältniß der Kräfte jedes einzelnen Bestandtheiles zum Ganzen gewisse Grundregeln gab, ohne deren beharrlichen Einfluß die Ordnung nicht gesichert seyn konnte; und es setzten sich allmählig folgende allgemeine Maximen als immerwährende Richtpunkte fest:

Daß, wenn das Staaten=System von Europa bestehen, und durch gemeinschaftliche Anstrengungen behauptet werden soll, die Einer der Theilnehmer an demselben so mächtig werden müsse, daß die Gesammtheit der Uebrigen ihn nicht zu bezwingen vermöchte;

Daß, wenn jenes System nicht blos bestehen, sondern auch ohne beständige große Gefahr und heftige Erschütterungen behauptet werden soll, jeder Einzelne, der es verletzt, nicht blos von der Gesammtheit der Uebrigen, sondern schon von irgend einer Mehrheit (wenn nicht von einem Einzelnen) müsse bezwungen werden können;

Daß aber, um der Wechsel=Gefahr einer ununterbrochnen Reihe von Kriegen oder willkührlichen Unterdrückung der Schwächern in jedem kurzen Zwischenraum des Friedens zu entrinnen, die Furcht vor gemeinschaftlichem Widerstande oder gemeinschaftlicher Rache der Andern in der Regel schon hinreichen seyn müsse, um Jeden in seinen Schranken zu halten; und

Daß, wenn irgend ein Europäischer Staat sich durch eigne rechtlose Unternehmungen zu einer Macht emporschwingen wollte, oder wirklich emporgeschwungen hätte, mit welcher er der fernen Gefahr einer Verbindung zwischen mehrern seiner Nachbarn, oder dem wirklichen Eintritt derselben, oder gar einem Bunde des Ganzen Trotz zu bieten vermöchte, ein solcher als gemeinschaftlicher Feind des gesammten Gemeinwesens behandelt; wenn hingegen eine ähnliche Macht durch zufällige Verkettung der Umstände, und ohne widerrechtliche That des Erwerbers, irgendwo auf dem Schauplatz erschiene, kein Mittel zur Schwächung derselben, das die Staats=Weisheit nur irgend an die Hand giebt, unversucht gelassen werden müsse.

Der Inbegriff dieser Maximen ist die einzige wohlverstandne Theorie eines Gleichgewichtes in der politischen Welt (S. 5-8).

Nach dem oben aufgestellten wahren Begriff vom politischen Gleichgewicht in Europa kömmt bei der Bestimmung der Verhältnisse zwischen den Staaten ihre jedesmalige innere Verfassung nur historisch, aber nicht rechtlich in Anschlag. Mit andern Worten: es kann keinem Staate gleichgültig seyn, zu wissen, was der innere Zustand eines andern in jedem gegebenen Zeitpunkte seyn mag; aber keiner hat die unmittelbare Befugniß, einen andern darüber zur Rechenschaft zu ziehen. Denn es hat zwar die innere Verfassung auf die Macht oder Ohnmacht des Staates allerdings den wesentlichsten Einfluß; aber nicht auf Graden der Macht, sondern auf der äußern Beschränkung derselben ist das Wesen eines Föderativ=Systems gegründet. Der Staat, den kein äußeres Verhältniß von der Unterdrückung eines Schwächern zurückhält, ist allemal, wie schwach er auch seyn möchte, für das Interesse des Ganzen zu stark; der Staat, der gezwungen werden kann, die Rechte des Schwächsten zu ehren, mag immerhin der mächtigste von allen, er wird dennoch nicht übermächtig seyn (S. 54f.).

(Gentz, Friedrich von, Fragmente aus der neuesten Geschichte des Politischen Gleichgewichts in Europa, Neudruck der [2.] Auflage St. Petersburg 1806, Osnabrück 1967)





6. 1806 - 1832

Die Abgründe der Ahndung, ein sicheres Anschauen der Gegenwart, mathematische Tiefe, physische Genauigkeit, Höhe der Vernunft, Schärfe des Verstandes, bewegliche sehnsuchtsvolle Phantasie, liebevolle Freude am Sinnlichen, nichts kann entbehrt werden zum lebhaften fruchtbaren Ergreifen des Augenblicks, wodurch ganz allein ein Kunstwerk ... entstehen kann ...

Vielleicht ist es kühn, aber wenigstens in dieser Zeit nötig zu sagen: daß die Gesamtheit jener Elemente vielleicht vor keiner Nation so bereit liegt als vor der deutschen. Denn ob wir gleich, was Wissenschaft und Kunst betrifft, in der seltsamsten Anarchie leben, die uns von jedem erwünschten Zweck immer mehr zu entfernen scheint: so ist doch eben diese Anarchie, die uns nach und nach aus der Weite in Enge, aus der Zerstreuung zur Vereinigung drängen muß. (S. 25)

Ich finde mich glücklich, daß, nach einer so langen und mannigfaltigen Laufbahn, meine guten Landsleute mich durchaus noch als den ihren betrachten mögen. Diesen Vorzug einigermaßen verdient zu haben, darf ich mir wohl schmeicheln, da ich weder Blick noch Schritt in fremde Lande getan, als in der Absicht, das allgemein Menschliche, was über den ganzen Erdboden verbreitet und verteilt ist, unter den verschiedensten Formen kennen zu lernen und solches in meinem Vaterlande wiederzufinden, anzuerkennen, zu fördern. Denn es einmal die Bestimmung der Deutschen, sich zum Repräsentanten der sämtlichen Weltbürger zu erheben. (S. 57)

„...ganz abgesehen von unsern eigenen Produktionen, stehen wir schon durch das Aufnehmen und völlige Aneignen des Fremden auf einer sehr hohen Stufe der Bildung. Die andern Nationen werden schon deshalb Deutsch lernen, weil sie inne werden müssen, daß sie sich damit das Lernen fast aller andern Sprachen gewissermaßen ersparen können; denn von welcher besitzen wir nicht die gediegensten Werke in vortrefflichen deutschen Übersetzungen? Die alten Klassiker, die Meisterwerke des neueren Europas, indische und morgenländische Literatur, hat sie nicht alle der Reichtum und die Vielseitigkeit der deutschen Sprache, wie der treue deutsche Fleiß und tief in sie eindringende Genius besser wiedergegeben als es in andern Sprachen der Fall ist?" (S. 61/62)

Wodurch ist Deutschland groß, als durch bewundernswürdige Volks-Kultur, die alle Teile des Reichs gleichmäßig durchdrungen hat. Sind es aber nicht die einzelnen Fürstensitze, von denen die ausgeht, und welche ihre Träger und Pfleger sind? - Gesetzt, wir hätten in Deutschland seit Jahrhunderten nur die beiden Residenzstädte Wien und Berlin, oder gar nur eine, da möchte ich doch sehen, wie es um die deutsche Kultur stände? ja auch um einen überalll verbreiteten Wohlstand, der mit der Kultur Hand in Hand geht!

Deutschland hat über zwanzig im ganzen Reich verteilte Universitäten, und über hundert ebenso verbreitete öffentliche Bibliotheken. An Kunststammlungen und Sammlungen von Gegenständen aller Naturreiche gleichfalls eine große Zahl ... Gymnasien und Schulen für Technik und Industrie sind im Überfluß da...

Und wiederum die Menge deutscher Theater, deren Zahl über siebenzig hinausgeht, und die doch auch als Träger und Beförderer höherer Volksbildung keineswegs zu verachten. Der Sinn für Musik und Gesang und ihre Ausübung ist in keinem Lande verbreitet wie in Deutschland, und das ist auch etwas!

Nun denken Sie aber an Städte wie Dresden, München, Stuttgart, Kassel, Braunschweig, Hannover und ähnliche; denken Sie an die großen Lebenselemente, die diese Städte in sich selber tragen; denken Sie an die Wirkungen, die von ihnen auf die benachbarten Provinzen ausgehen ...

Frankfurt, Bremen, Hamburg, Lübeck sind groß und glänzend, ihre Wirkungen auf den Wohlstand von Deutschland gar nicht zu berechnen. Würden sie aber wohl bleiben was sie sind, wenn die ihre eigene Souveränität verlieren und irgendeinem großen deutschen Reich als Provinzialstädte einverleibt werden sollten? - Ich habe Ursache, daran zu zweifeln." (S. 78/79)


(Goethe über die Deutschen [1806-1832], hg. Hans J. Weitz, Frankfurt 1978.)





7. 1834

Zuerst, wir stehen in der Mitte Europas, wir sind das Herz, das alle andern Völker, damit dem Welttheile wohl seyn könne, streben sollten zu erquicken und zu stärken, das aber so viele arglistig oder kurzsichtig zu zersplittern und zu zerreissen streben. Wir sind das gebildeteste, unterrichteteste Volk Europas; (...) Jede große Erregung und Bewegung des Welttheils, wenn sie auch nicht von dem Herzen ausgeht, muß doch immer von dem Herzen gefühlt werden, oft so gewaltig gefühlt werden, als ob es darüber zuweilen fast zerspringen müßte. Was in Wissenschaft und Kunst, in Erfindungen und Gewerben, in Gesetzgebungen und Staatsverfassungen bei irgend einem Volke Neues und Lebendiges ist, vor allem zuerst nimmt der Deutsche davon Kunde und eignet sich sein Theil davon zu; vor allem aber nimmt der Deutsche - so ist seine Natur gestellt - das Geistige, das Idealische, das Außerordentliche mit einem großen Ernst bei sich an und auf; (...) (S. 87/88).

Als die(se) Befreiung [von Napoleon] vollendet war, ist man für den Wiederaufbau Deutschlands nicht so sehr dem Muster des alten zertrümmerten Baues gefolgt, welches für diese Zeit den Meisten unbequem oder unbrauchbar däuchte, sondern man hat sich für die neue Gestaltung der deutschen Dinge von der Themse und Seine Rath geholt: man ist größtentheils dem Strome gefolgt, wie er floß, oder vielmehr der Meinung, wie sie eben galt und gleichsam die Weltmeinung geworden war. Die Staaten Deutschlands, zusammen beinahe 40, unter welchen 2 von erstem Range, sollten auf der einen Seite unabhängig von einander und jeder Staat selbständig für sich in eigener Indiviualität sich entwickeln und gestalten dürfen, auf der andern Seite aber Gesetzen der Gesammtheit gehorchen, wodurch sie nach innen mit einander in Frieden und Freuden leben, nach außen hin aber den mächtigen Nachbarn gegenüber als große Macht, als ein geschlossener deutscher Bundesstaat in Kraft da stehen sollten. (S. 89/90)

Wir haben jetzt unsern deutschen Bundesstaat, unsere deutsche Staatsverfassung, wie sie seit 1815 gemacht worden sind oder sich gemacht haben. Wenn ich sagte, daß diese Verfassung dem Auslande gegenüber die festeste und kräftigste, im Innern betrachtet die bequemste und angenehmste wäre, müßte ich den Gefühlen und Urtheilen Vieler Widersprechen. Aber sie ist gegenwärtig auf Recht und wie jeder andere Besitz auf Heiligkeit des Schwurs und Vertrags gegründet. Jeder der es mit dem Vaterlande und mit der Zukunft desselben wohl meint, hat zu denken und zu arbeiten, jeder auch zu wünschen und zu beten, daß dieser schwere und verwickelte Bau, der bei dem in der Zeit sich anwälzenden Gedränge zehnfachen Schwierigkeiten und Gefahren ausgesetzt ist, weiter so entwickelt, gehalten und geordnet werden könne, daß er denen, die darin hausen müssen, wohnlich dünke, nach außen hin aber so stark und wohl verwahrt erscheine, daß er den Fremden Ehrfurcht gebiete ihn anzutasten. (S. 101/102)

Und nun zwischen den beiden mächtigsten Staaten der Feste in der Mitte - zwischen Frankreich, welches monarchisch ist und zuletzt wieder viel monarchischer werden wird, und zwischen Rußland - in solcher Lage, wo wir mehr denn je der Stärkung und Einigung bedürfen, wenn wir nicht endlich wie ein zersprengter Sonnenball in tausend Komentenstücke zerfliegen sollen, kann ein Verständiger solche Träume träumen? Wir bedürfen der doppelten Kräftigung gegen so gewaltige Nachbarn. Sie ist nur möglich durch den Geist, durch die Liebe, durch die gegenseitige Duldung, Hingebung und Aufopferung, durch eine weise Wägung und Erwägung beide von den Regierungen und dem Volke, was in unserer Lage möglich und ausführlich, was auf jeden Fall unumgänglich und unvermeidlich ist, was also geduldet und gethan werden muß. (S. 118)

Doch so wird die Welt nicht zusammenstürzen, so werden die Völker nicht vereinigt werden, um desto gewaltiger gegeneinander zu rennen. Aber die Zeit ist gekommen, wo das Gleiche das Gleiche sucht. Möge solche Einigung und Wiederzusammengesellung menschlich würdig, auf edlen Wegen und durch die natürlichen Verhältnisse gefördert und bewirkt werden! (...)

Der Bundesstaat, ein Staat, der seiner Natur nach nimmer den Geist der Eroberungen und Ueberziehungen hegen kann, wäre nicht zu mächtig geworden für das eigene noch für das europäische Glück, wenn es damals eine Weisheit gegeben hätte, welche die alten abgespalteten edlen Theile des Vaterlandes (das Elsaß, Lothringen, die Schweiz, die Niederlande) wieder in den Bund zu schließen gestrebt und verstanden hätte. (S. 145/146)

(Ernst Moritz Arndt, Belgien und was daran hangt. Leipzig 1834)





8. 1839

Einigung der individuellen Kräfte zu Verfolgung gemeinsamer Zwecke ist das mächtigste Mittel zur Bewirkung der Glückseligkeit der Individuen. Je größer die Zahl derer ist, mit welchen es in gesellschaftlicher Verbindung steht, desto größer und willkommener ist das Produkt, die geistige und körperliche Wohlfahrt der Individuen.

Die höchste, zur Zeit realisierte Einigung der Individuen unter dem Rechtsgesetz ist die des Staats und der Nation; die höchste denkbare Vereinigung ist die gesammte Menschheit.

Die Natur selbst drängt die Nationen allmählich zu dieser höchsten Vereinigung, indem sie durch die Verschiedenheit des Klimas, des Bodens und der Produkte sie zum Tausch, und durch Übervölkerung nach Überfluß an Capital und Talenten zu Auswanderung und Colonisation antreibt. Der internationale Handel, indem er durch Hervorrufung neuer Bedürfnisse zur Tätigkeit und Kraftanstrengung anreizt und neue Ideen, Erfindungen und Kräfte von einer Nation auf die andere überträgt, ist einer der mächtigsten Hebel der Civilisation und des Nationalwohlstandes.

Durch den Krieg kann die Nation ihrer Selbständigkeit, ihres Eigenthums, ihrer Freiheit, ihrer Unabhöngigkeit, ihrer verfassung und Gesetze, ihrer Nationaleigentümlichkeiten und überhaupt ihres bereits errungenen Grades von Kultur und Wohlstand beraubt werden, kann sie unterjocht werden.

Erhaltung, Ausbildung und Vervollkommnung der Nationalität ist daher zur Zeit der Hauptgegenstand des Strebens der Nation, und muß es sein. Es ist dies kein falsches und egoistisches, sondern ein vernünftiges, mit dem wahren Interesse der gesamten menschheit vollkommen in Einklang stehendes Bestreben; denn es führt naturgemäß zur endlichen Einigung der Nationen, unter dem Rechtsgesetz, zur Universalunion, welche der Wohlfahrt des menschlichen Geschlechts nur zuträglich sein kann, wenn viele Nationen eine gleichmäßige Stufe von Kultur und Macht erreichen, wenn also die Universalunion auf dem Wege der Conföderation realistisch wird (S. 9-10).

Es liegt in dem Geist jeder Nationalität, am meisten aber der von Nordamerika, sich in Sprache, Literatur, Administration und Gesetzgebung zu assimilieren, und es ist gut, daß es so ist (S. 347).

Wenn irgendeine Nation zu Pflanzung einer nationalen Manufaktur berufen ist, so ist es die deuitsche - durch den hohen Rang, den sie in den Wissenschaften und Künsten, in der Literatur und Erziehung, in der öffentlichen Administration und in gemeinnützigen Institutionen behauptet - durch ihre Moralität und Religiosität, ihre Arbeitsamkeit und Wirtschaftlichkeit - durch ihre Beharrlichkeit und Ausdauer in den Geschäften, sowie durch ihre Erfindungskunst - durch ihre Größe und die Tüchtigkeit ihrer Bevölkerung - durch den Umfang und die Kraft ihres Territoriums - durch ihren weit vorgerückten Ackerbau und ihre physischen, socialen und und geistigen Hülsquellen überhaupt (S. 342).

Das höchste Ziel der rationellen Politik ist es, ... die Vereinigung der Nationen unter dem Rechtsgesetz - ein Ziel, das nur durch möglichste Gleichstellung der bedeutendsten Nationen der Erde in Kultur, Wohlstand, Industrie und Macht - durch Verwandlung der zwischen ihnen bestehenden Antipathie und Conflicte in Sympathien und Harmonie zu erreichen ist. Die Lösung dieser Aufgabe ist aber ein Werk von unendlich langsamem Fortgang (S. 331).

Die Politik hat längst gefühlt, daß Gleichstellung der Nationen ihre endliche Aufgabe sei. Das, was man Erhaltung des europäischen Gleichgewichts nennet, ist von jeher nichts anderes gewesen, als das Bestreben der Mindermächtigen, den Umgriffen der Übermächtigen Einhalt zu tun (S. 332).


(Friedrich List: Das Nationale System der politischen Ökonomie, Stuttgart - Berlin 1925)





9. 1847

Die Vermischung der Nationalitäten.
Wenn die Entwickelung der Nationalitäten im genealogischen Sinne des Wortes der höchste Zweck der Politik wäre, wenn also die Politik nichts wäre als die Ueberwindung der Isolirung der Individuen durch die Isolirung der Völker, so müßte das Ziel der politischen Organisation des Menschengeschlechts das Zusammentreffen der Staatsgesellschaften mit den ethnographischen Abtheilungen des Geschlechtes sein. Aber die Cultur der einzelnen Völker und die Organisation einzelner Staaten ist nur Vorarbeit und Vorbild für einen Zustand allgemeiner Cultur und Politik des ganzen Geschlechtes. Zu diesem Ziele führt die Kreuzung der politischen Gesellschaften mit den ethnographischen Abtheilungen des Geschlechtes, und der politischen Cultur mit der genealogisch=volksthümlichen -, führt die Zersplitterung und der Untergang von Culturvölkern die ihre Bildungselemente in die anderen Völker tragen bis endlich alle Elemente der Humanität in allen Theilen der Menschheit zur Entwickelung gekommen und das Hinderniß der friedlichen Organisation, welches in dem Antagonismus der Bildung und Rohheit vorhanden, beseitigt worden ist.

Die allgemeine Föderation.
Sowie der leibliche und geistige Verkehr der Völker sich ausbreitet und zugleich tiefer in das Leben derselben eindringt, entsteht eine immer weitere und tiefere Gemeinschaft der Interessen unter ihnen. Die Völker sehen sich genöthigt sich über ihre sittlichen Systeme zu verständigen, in engere und weitere Zweckgemeinschaften zu treten und die Mittel für die gemeinsamen Zwecke zu organisiren. Die Zeit ist nicht fern wo die Schranken des freien Verkehrs zwischen den Staaten fallen werden, wie sie zwischen den Individuen im Staate schon gefallen sind. Und die Zeit wird kommen wo die sämmtlichen Staaten sich zur Staatenrepublik ordnen werden wie jetzt die Individuen im Staate sich zur Bürgerrepublik zu ordnen suchen. Die Zeit wird kommen wo die Rechtsverhältnisse zwischen den Staaten sich bis zur allgemeinen Föderation aller Staaten ausgebildet haben. Der Gegensatz der nationalen und internationalen Politik, des Staatsrechtes und Völkerrechtes, geht damit, wenn auch erst für ferne Jahrhunderte, seiner Auflösung entgegen, und das letzte Ziel aller Politik wird die demokratisch gegliederte Bundesgenossenschaft aller Menschen, die allgemeine Selbstregierung des Menschengeschlechtes das sich als autonomischer Bewohner, Besitzer und Bewirthschafter des Planeten bewußt ist (S. 467-469).

(Fröbel, Julius, System der sozialen Politik, In 2 Teilen, Teil 2, Neudruck der Ausgabe Mannheim 1847, Aalen 1975)





10. 1849

Die Macht oder Ohnmacht Deutschlands bestimmt das Schicksal Europas.

Der Versuch, die politische Einheit Deutschlands durch Beschlüsse einer nationalen Gesamtvertretung herzustellen, ist mißlungen. An dem Gegensatz Östreichs und Preußens hat er scheitern müssen. Nur in dem Maße, als man ihn würdigt, wird man im Stande sein, die Gegenwart zu verstehen (S. 213).

Preußen darf sich nicht mehr dabei beruhigen wollen, doch nur die zweite Macht in Deutschland zu sein. Die deutsche Macht zu sein ist seine geschichtliche Aufgabe.

Wir wollen es nicht ausmahlen, was das Ergebnis sein würde, wenn die Neugestaltung in diesem Sinne mißlänge. Es würde dann das oft wiederholte Wort Napoleons, daß in fünfzig Jahren Europa kosakisch oder republicanisch sein werde, in dem Sinne wahr sein werden, daß je die eine die andere Form der Absolutie über den Haufen rennte - der Absolutie, sage ich, denn was, was man heut zu Tage Republic nennt, ist nichts anderes als die ächt russische Willkührherrschaft der Massen oder, wenn es hoch kommt, der Majoritäten. Vor diesem Unheil Deutschland und Europa zu bewahren, das monarchische Prinzip von den absolutistischen Trugformen und Scheinheiligkeiten, mit denen es sich umkleiden zu müssen geglaubt hat, zu befreien und es mit seiner Hoheit und Wahrheit darzustellen - aus den republicanischen Gebahrungen die lebensvollen Elemente freier und gewissenhafter Hingebung an das Gemeinwesen, fester und bewußter Aufrechterhaltung des Rechtes, lebendiger Bewegung und Entwickelung aller geistigen und materiellen Güter in das wieder beginnende nationale Leben hineinbilden - und so in der natürlich bedingten Scheidung der Staaten und Völker die Gemeinsamkeit ihres Friedens, ihrer gegenseitigen Förderung und Ergänzung zu schaffen, und durch ein neues und wahres Völkerrecht zu sichern, das ist die Aufgabe, die es zu lösen gilt.

Es ist ein Problem der Ponderation. Nicht von der Freiheit, nicht von nationalen Beschlüssen aus war die Einheit Deutschlands zu schaffen. Es bedurfte einer Macht gegen die anderen Mächte, ihren Widerspruch zu brechen, ihren Eigennutz von uns zu wehren. In diesem Sinne an die Spitze Deutschlands tretend, erneue uns Preußen die wahrhafte Idee des Kaiserthums, wie sie seit dem fünften Karl an der dynastischen Politik Östreichs zugrunde gegangen ist erneue es uns das Reich deutscher Nation, daß es nicht, wie der deutsche Bund war, eine träge Sumpflache sei, die Machteifersucht der Gewaltigen Europas aus einander zu halten, sondern sich zwischen ihnen eine freie luftige Höhe erhebe, unter dessen Schirm ringsher die minder Mächtigen leben und weben können nach ihrer Art (S. 228/29).


(Johann Gustav Droysen: Preußen und das System der Großmächte (1849), in: Ders., Politische Schriften. Hg. Felix Gilbert, München und Berlin 1933).





11. 1853

Wenn es in den mittleren Zeiten der Geist der Genossenschaft war, der das Princip einer aristocratischen Freheit aufrecht erhielt, so hat sich dieser in der neuern Zeit in einen Geist des Individualismus umgebildet, der die Saat demokratischer Freiheit gestreut hat. Dieser Zug des persönlichen Selbstgefühles hat in die deutsche Volksnatur den Trieb gelegt nach der Bildung und nach der daraus fließenden Selbständigkeit der möglichst Vielen, nach ihrer freieren Bewegung im Glauben und im Wissen, in politischen Rechten, im Besitz und geschäftlichen Betriebe. Auf dieser Bildung, dieser freien Bewegung, dieser Selbstthätigkeit aber beruht alle demokratische Ordnung und allen Möglichkeit ihres Bestandes; diese große Lehre haben die germanischen Stämme der damaligen romanischen, wie der heutigen slavischen Welt gegenüber den neueren Zeiten gegeben (S. 42).

Während Spanier und Franzosen erfolglos ihre Kräfte vergeudeten in dem Streben nach großen einheitlichen regierten Staatsgebieten, machte sich der individualistische Trieb der Germanen fortwährend auch in ihren Staatsgebilden geltend: Alles strebte darin nach Selbständigkeit und Selbstregierung der natürlichen Staatstheile, nach landschaftlicher Sonderung, nach kleinen Staatsgebieten, und höchstens, wo sich größere Nationalitäten in einem Staate zusammenschlossen, nach föderativer Vereinigung. Diese kleinstaatliche Verfassung gab dem Leben der germanischen Nationen überall, im Gegensatz zu den nach außen strebenden romanischen Staaten, einen Zug inneren Lebens und friedlicher Neigung; selbst Holland und England sind zu den großen Kriegen mit Frankreich und Spanien nur durch Nothwehr gezwungen worden und haben ihre Macht vertheidigend erobert (S. 44).

Das Ziel seiner Staatskunst könnte kein anderes sein, als die gefährlichen einheitlichen Großstaaten überall aufzulösen in Föderationen, die die Vortheile großer und kleiner Staaten vereinigen und der allgemeinen Freiheit und der friedlichen Ausbreitung aller Art von Bildung sichere Gewähr bieten.


(Georg Gottfried Gervinus: Einleitung in die Geschichte des 19. Jahrhunderts (1853), Frankfurt a.M. 1961).





12. 1869/71

Mögen immerhin die Föderalisten versichern, die Zersplitterung der Völker sei die Regel, die Einheit die Ausnahme - die Geschichte spottet des Thoren, der ihre Lehren nicht verstehen will, sie hat mit unwandelbarer Sicherheit alle großen Culturvölker Europas dem Einheitsstaate entgegengeführt, und auch bei uns, die wir erst vor wenigen Jahren das Joch einer fremden Macht von unserem Nacken abschüttelten, tritt sofort dieser unitarische Zug in handgreiflicher Klarheit hervor (S. 539).

Die deutsche Demokratie war immer der Freund der Kleinstaaterei, freilich ohne es zu wissen, sie war und ist der Gegner des preußisch-deutschen Staats.

Neben dem grandiosen Gedanken der Einheit Deutschlands erscheint jede andere politische Hoffnung als ein bescheidenes Werkzeug. Wenn spätere Geschlechter zurückschauen auf die großen Kämpfe unserer Tage, so werden sie uns nicht fragen: was habt ihr gethan, um den oder jenen Paragraphen des Rotteck-Welckerschen Staatslexikons zu verwirklichen? - sie werden fragen: was thatet ihr, um den alten Adel des deutschen Wesens wieder zu erwecken aus dem Neid und der Lüge, dem Zank und der Zuchtlosigkeit der Kleinstaaterei? Was thatet ihr, um die Geschöpfe einer ruchlosen Fremdherrschaft, die beredten Zungen deutscher Schande, die napoleonischen Königskronen einer festen nationalen Ordnung zu unterwerfen?

Verlangen wir zu viel, wenn wir wünschen, der Liberalismus solle nach dieser beispiellosen Gunst des Glückes um des Vaterlandes willen ein moralisches Opfer bringen und die Erfüllung einiger Lieblingswünsche so lange vertagen, bis der deutsche Staat vollendet ist?

Die kühnen Sätze der Unabhängigkeitserklärung der Vereinigten Staaten werden noch fernen Zeiten erscheinen wie die majestätische Inschrift über dem Eingangsthore einer demokratischen Epoche; doch in Wahrheit begründet wurde die Republik des Westens erst durch jene bescheidene Versammlung von Philadelphia, deren trockene, geheime Debatten den Staatenbund in einen Bundesstaat verwandelten.

Das Gebiet Preußens abzurunden und dann dem verstärkten Staate die Führerstelle in Deutschland zu übertragen - nach diesem zweifachen Ziele haben alle Staatsmänner getrachtet, welche Preußens nationale Politik in großem Sinne verstanden; so Friedrich, so schon unter dem großen Kurfürsten jener scharfblickende Graf Waldeck.

Unterdessen tobt der Rassenkampf mit entsetzlicher Erbitterung. Hätte Friedrich der Große ganz Böhmen behaupten können, so wäre heute unzweifelhaft das Czechenthum dort ebenso im Absterben, wie in dem schönen Glatzer Ländchen, das preußisch blieb; jener gewaltige slavische Keil, der sich tief in das Herz des deutschen Landes drängt, wäre zerstört. Seitdem hat die slavische Propaganda ihr Werk gethan; in jedem dieser verkommenen Barbarenstämme lebt heute ein so trotziges Selbstgefühl, daß selbst ein norddeutscher Eroberer hier der deutschen Gesittung nur wenige Schollen gewinnen könnte. Wie soll sich nun das Deutschthum Österreichs gegen die Übermacht dieser Barbaren behaupten - jenes verkümmerte, weithin zerstreute, in Parteien zerrissene Deutschthum, das schon seit dreihundert Jahren deutsche Bildung nur aus halbverschütteten Brunnen schöpft?

Große politische Leidenschaft ist ein köstlicher Schatz; das matte Herz der Mehrzahl der Menschen bietet nur wenig Raum dafür. Glückselig das geschlecht, welchem eine strenge Nothwendigkeit einen erhabenen politischen Gedanken auferlegt, der groß und einfach, Allen verständlich, jede andere Idee der Zeit in seine Dienste zwingt! Ein solcher Gedanke ist unseren tagen die Einheit Deutschlands; wer ihr nicht dient, lebt nicht mit seinem Volke. Wir stehen im Lager; jeden Augenblick kann uns des Feldherrn Gebot wieder unter die Waffen rufen. Uns ziemt nicht, den tausend und tausend glitzernden Freiheitswünschen, die dies Zeitalter der Revolutionen durchflattern, in blinder Begierde nachzujagen. Uns ziemt, zusammenzustehen in Manneszucht und Selbstbeherrschung, um den Hort unserer Einheit, das deutsche Königthum, treubewahrt den Söhnen zu übergeben (S. 560/61).


(Heinrich von Treitschke: Das constitutionelle Königthum in Deutschland (1869/71), in: Ders., Historische und politische Aufsätze, Bd. III, Leipzig 1915).





13. 1870

Das Nationalitätsprinzip ist meiner Ansicht nach ein durchaus reaktionäres Prinzip; wollen wir das Nationalitätsprinzip in Europa wirklich unverfälscht zur Geltung bringen, dann werden Sie zugeben, wäre des Krieges kein Ende abzusehen, dann wäre der Beruf der Völker nur, immer Krieg zu führen, zu arbeiten, nur, um den Krieg zu ermöglichen. Aufgrund des Nationalitätsprinzips wäre es notwendig, daß wir Polen abtreten, daß wir Nordschleswig wieder abgeben, daß wir Südtirol und Trient abstoßen, es wäre notwendig, daß wir soundsoviele slawisch sprechende Länderteile preisgeben, daß wir dagegen Stücke der Schweiz, Hollands und Belgiens annektieren. Mit dem Nationalitätsprinzip also, wie gesagt, würden wir aus dem Krieg nicht mehr herauskommen. Es würden die Völker sich gegenseitig zerfleischen bis an das Ende aller Dinge. Die Nationalität hat nur wenig zu bedeuten, sie hat nur untergeordneten Wert in meinen Augen für das politische Staatsleben. Das höchste, die Grundidee des politischen Staatslebens, muß die innere Befriedigung der Völker über ihre Einrichtungen, muß ihr Selbstbestimmungsrecht sein. Zwei Staaten in der Welt beweisen das aufs sonnenklarste, das sind die Schweiz und Amerika. Sie finden in der Schweiz Italiener, Franzosen und Deutsche ruhig nebeneinander leben, nirgends verlangen sie Italiener, Franzosen oder Deutsche zu werden. Sie finden drüben in der großen Republik über dem Ozean dasselbe Verhältnis; Engländer, Franzosen und Deutsche zu Millionen leben ruhig und friedlich nebeneinander und vertragen sich (S. 357/58).


(August Bebel: Rede am 26. November 1870 im Norddeutschen Reichstag, in: Ernst Deuerlein (Hg.): Die Gründung des Deutschen Reiches 1870/71 in Augenzeugenberichten, München 1977).





14. 1886

Unverantwortlich ist Deutschlands alte Seeherrschaft einst geschädigt und endlich zerstört worden durch die binnenländische Beschränktheit unserer alten Kaiserpolitik. Nun endlich besitzen wir ein Kaisergeschlecht, das Seeluft geatmet hat, das die völkerverbindende Macht der Meere zu verstehen vermag. Große Pläne zur Sicherung unserer Stellung am Weltmeer, wie sie sonst nur vereinzelte geniale Naturen ahnen konnten, vollenden sich in unseren Tagen. Im Jadebusen, wo einst Wallenstein den Herrschersitz der deutschen Seemacht gründen wollte, ist der neue kaiserliche Kriegshafen bereits eröffnet, und eben jetzt stehen wir im begriff, noch einen anderen Gedanken des Friedländers zu verwirklichen, Ost- und Nordsee an eine Kette zu hängen, unsere beiden Meere durch eine deutsche Wasserstraße zu verbinden. Mit den ärmlichen Kräften eines Ackerbaulandes unternahm einst der Große Kurfürst vor der Zeit, einen deutschen Pflanzungsstaat in Afrika zu bilden. Was jene Tage nicht zu behaupten vermochten, wird heute von neuem versucht, aber mit den Machtmitteln eines entwickelten nationalen Gewerbefleißes, der allein dem Bestande eines Kolonialreiches festen Rückhalt gewährt. Seit wenigen Jahrzehnten erst überschauen wird in Wahrheit die Kleinheit der Erde und können mit einiger Sicherheit sagen, daß dies alte Europa immer das Herz der Welt bleiben und dereinst die Völker der weißen Rasse den ganzen Erdball beherrschen werden. Überall in der Welt ringt der deutsche Kaufmann und Ansiedler im friedlichen Wettkampf mit anderen Nationen, schon weht unsere Flagge in zwei fremden Weltteilen über deutschen Pflanzungslanden; und bleiben wir ausdauernd am Werke, so muß es uns noch gelingen, die Versäumnis dreier Jahrhunderte zu sühnen, deutscher Sprache und Gesittung jenseits des Ozeans ein starkes Machtgebiet zu sichern, so daß die Heimatlosen, welche Deutschlands überschäumende Kraft Jahr für Jahr in die Fremde hinaussendet, dem Vaterlande nicht ganz verlorengehen. Denn so rasch lebt diese Zeit, kaum ist Deutschland wieder eingetreten in die Reihe der großen Mächte, so müssen wir schon mit einer nahen großen Zukunft rechnen, da kein Staat, der bloß Europa angehört, sich in der Stellung einer Weltmacht wird behaupten können (S. 653/54).


(Heinrich von Treitschke: Zur 25jährigen Regierungsfeier Kaiser Wilhelms I. (1886), in: Ders., Aufsätze, Reden und Briefe, Bd. I, Meersburg 1925).






















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