EDUVINET Home Beiträge aus dem Mittelalter (6. bis 15. Jahrhundert) zu Vorstellungen über Europa





By Prof. Dr. Dieter Mertens, University of Freiburg, GERMANY, 1997

Contribution to the EDUVINET "European Identity" subject







1.0. Europa als geographischer Begriff

1.1. Im Mittelalter ist "Europa" nicht anders als heute zunächst ein geographischer Begriff. Dementsprechend gilt Europa als ein Produkt der Natur, nicht der Geschichte. Kontinuierliche Verwendung findet der Terminus Europa im Mittelalter nur als geographischer Begriff. Es bezeichnet einen der drei Erdteile, die, der antiken Geographie folgend, im Mittelalter bekannt waren. Asien nahm nach dieser Auffassung die eine Hälfte der Erde ein. Die andere Hälfte teilten sich Europa und Afrika zu gleichen Teilen. Von der gewaltigen Südausdehnung Afrikas wußte man nichts; sie wurde erst durch die portugiesischen Entdeckungsfahrten des späteren 15. Jahrhunderts bekannt. Man stellte die Welt meist schematisch als sog. T-O-Karte dar: wie ein großes O als kreisförmige Scheibe, die T-förmig unterteilt ist, und zwar in der Mitte horizontal, im unteren Teil vertikal. Die obere Hälfte nimmt Asien (der Osten) ein, die Horizontale bilden links (d.h. im Norden) der Don (Tanais) und rechts (im Süden) der Nil, die beide in das Mittelmeer, die Vertikale, münden. Der Ozean umschließt die drei Erdteile, er bildet den Rand der Scheibe.

1.2. Während das heutige geographische Weltbild die Nord- und die Südhalbkugel unterscheidet, basiert das mittelalterliche geographische Weltbild auf der antiken Gliederung der Welt und des Römischen Reiches in Ost und West, in Oriens und Occidens. Den Okzident bilden dabei Europa und Afrika gemeinsam. Aus römischer und mediterraner Sicht sind mit Europa und Afrika in erster Linie deren dem Mittelmeer zugewandten Teile gemeint. Mit dem Ende des Römischen Reiches wird die zweiteilige Gliederung obsolet und werden die Erdteile wichtiger. Die Schlußfolgerung, daß Europa lediglich ein Viertel der Erde ausmache, spielt für den politischen und religiösen Europa-Begriff eine wichtige Rolle. Die Entdeckung Amerikas am Ende des Mittelalters ließ Europa auf den neuen Weltkarten noch viel kleiner erscheinen (Erasmus von Rotterdam). Doch andererseits galt schon 1516 die neue Welt mehr als "drei Europas", die Spanien hinzugewinne (Petrus Martyr von Anghiera ).





2.0. Europa als politischer, religiöser und kultureller Begriff

2.1. Heute kann europäisches Denken zweierlei bedeuten:

2.2. Im Mittelalter ist der Europa-Begriff immer dem Begriff der Kirche nachgeordnet. Unter Kirche wird im Sprachgebrauch der lateinischen Christenheit meistens allein diese selbst verstanden, nicht auch die östlichen Kirchen. Faktisch manifestierte sich die Einheit des lateinischen Westens in der Rom-Zentrierung der Kirche seit dem 11. Jahrhundert in Liturgie, Organisation und Recht, in den Kreuzzügen, dem Pilgerwesen, in den Orden, den Universitäten und Konzilien. Der Beitrag zum Denken in der Kategorie Europa ist dagegen bis in das 15. Jahrhundert für das Mittelalter selber nicht von zentraler Bedeutung. Mit den folgenden vier Vorstellungen wird der Europa-Begriff nacheinander verbunden: 1. Die europäischen Völker seien gleicher Abstammung und folglich verwandt (3.1.). - 2. Die expansive Herrschaft Karls d. Gr. habe Europa zusammengefaßt (3.2.). - 3. Europa sei mit der Christenheit identisch, doch sei es der vom Islam bedrängte Rest der einst umfassenderen Christenheit (3.3.). - 4. Europa sei durch die christliche Religion und das Erbe der antiken Kultur definiert und habe beide gegen den Islam zu verteidigen (3.4.).

Die Nichteuropäer, d.h. die Araber, verwendeten den Europa-Begriff nicht, sondern sprachen geographisch vom Norden. Sie bezeichneten die Byzantiner und östlichen Christen als Römer und die Lateiner als Franken. Die Byzantiner (Römer) zählten sie zu den kultivierten Völkern, die zur Vermehrung des Wissens beigetragen haben, die Lateiner (Franken) zu den nördlichen Barbaren.

3.1. Die Vorstellung, die europäischen Völker - mit Ausnahme der Ungarn, deren Vorfahren die Hunnen gewesen seien (10./11. Jh.) - seien gleicher Abstammung, wurde auf zwei Wegen entwickelt: 1. aus der Bibel, d.h. aus dem Stammbaum der Söhne Noahs, den die Völkertafel des Buches Genesis (Genesis cap. 9 und 10) enthält; 2. aus der antiken Mythologie, d.h. aus den Herkunftssagen, die aus dem trojanischen Sagenkreis hergeleitet wurden. Der Mythos vom Raub der lybischen Königstochter Europa durch Zeus spielt im Mittelalter keine Rolle.

3.1.1. Im Buch Genesis (9,19) wird berichtet, daß Noah mit drei Söhnen die Arche verlassen habe: mit Sem, Cham und Japhet. Von ihnen stammten alle Menschen ab, d.h. alle Völker. Erst die Bibelexegese seit dem 7. Jahrhundert erklärte dies genauer: Noah habe seinen drei Söhnen die drei bekannten Erdteile zugewiesen: Sem Asien, Cham Afrika und Japhet Europa. Von den sieben Söhnen Japhets, die im Buch Genesis genannt werden, stammten 15 Völker ab. Einer der Söhne Japhets ist Magog. Da von Magog die Goten und die Skythen am Don (Tanais) abstammen sollten (Isidor von Sevilla, + 638) und von den Skythen die Hunnen/Ungarn und die Türken, war es grundsätzlich möglich, auch diese Völker den Nachkommen Japhets zuzuordnen. Gelegentlich wurde dies auch getan. Um 1200 erklärten sich die Ungarn und die Isländer als Nachfahren Magogs. Magog sei der Ahnherr Attilas, der Hunnen und Ungarn, sagten die Ungarn. Und die Isländer behaupteten, Tiras, ein Sohn Magogs und Türkenherrscher, sei ihr, der Isländer, Ahnherr. - Auch aus arabischer Sicht sind die Europäer Nachkommen Japhets.

3.1.2. Die Troja- und die Aeneassage, der identitätsstiftende Mythos der Römer, waren in der Spätantike allgemein gegenwärtiges Bildungsgut. Im Mittelalter ist sie in der lateinischen Geschichtsschreibung und Dichtung seit dem 7. Jh. und in den volkssprachlichen Literaturen seit dem 12. Jh. präsent. Für die Deutung der eigenen Herkunft war der Trojastoff populärer als die biblische Erklärung. Denn die Rückführung aller europäischer Völker auf Japhet betont die Gleichheit ihrer Abstammung; sie kann keinen Adel verleihen. Sie ist darum nicht geeignet, Konkurrenz oder Vorrang einzelner Völker zu begründen. Dies aber kann die Trojasage leisten. Sie gibt zudem Gelegenheit, entsprechend den Wertvorstellungen einer Feudalgesellschaft von kriegerischen Taten, Königen, Wanderungen und Gründungen in vielen Varianten zu berichten.

Als erstes nichtrömisches Volk behaupten die Franken im 7. und 8. Jh., wie die Römer von den Trojanern abzustammen (sog. Fredegarius und der Liber Historiae Francorum ), um Gleichrang mit den Römern und Vorrang vor den anderen Völkern zu behaupten. Nach der Erorberung Trojas sei Aeneas nach Italien geflohen, doch die übrigen Trojaner wären teils nach Makedonien, teils unter Priamus, später unter Francio, der ihnen zum Namen Franken verholfen habe, über das Don- und das Donaugebiet in den Westen gezogen, schließlich nach vielen Jahrhunderten über den Rhein nach Gallien. Immer weitere Völker und Herrscherdynastien suchten den Vorrang dieser Abstammung durch immer neue Variationen der Trojanersage: die Briten im im 7./8. und verstärkt seit dem 12. Jh., die Normannen im 10. Jh., Schotten im 13. Jh., die Brabanter im 15. Jh.; die Luxemburger, Valois, Habsburger im im 15. und 16. Jh. Bereits im 12. Jh. Schreibt Henry of Huntingdon: "Wie die meisten Völker Europas, so leiteten die Franken ihren Ursprung von den Tojanern her." Dasselbe wiederholt Ranulf Higden im 14. Jh. Je mehr Völker und Dynastien ihren Ursprung von den Trojanern herleiteten, umso mehr verlor die Trojanersage ihre Exklusivität, und umso mehr konnte Troja zur Wiege der europäischen Völker werden. Seit der Mitte des Mittelalters, spätestens seit seinem Ende, war sie es.

3.2. Die Herrschaft Karls des Großen (768-814) wird im 8. und 9. Jh. mehrfach als Herrschaft über Europa bezeichnet. Doch dies geschieht nicht im offiziellen Sprachgebrauch der karolingischen Urkunden und Herrschertitel, sondern lediglich im inoffiziellen Sprachgebrauch: in Briefen und Gedichten, die im Umkreis seines Hofes entstanden. Dieser Verwendung des Europa-Begriffs geht eine Verschiebung der Perspektive voraus. Sie entspricht dem Ende des weströmischen Reiches und der Bildung des Frankenreiches und spiegelt damit die Verlagerung des Schwerpunktes politischer Macht vom mittelmeerischen in den nordalpinen Raum wider, von Rom nach Aachen. Über Europa wird nicht mehr aus mediterraner Perspektive gesprochen (s.oben 1.2.), sondern aus der Perspektive der nordalpinen christlichen Länder. Das um 800 entstandene Epos Karolus Magnus et Leo Papa bezeichnet Karl als "hochragenden Leuchtturm Europas" - dieser Ausdruck ist charakteristischerweise einer Lebensbeschreibung des Heiligen Martin von Tours, des Hauptheiligen des Frankenreiches, entnommen -, als "höchste Zierde" und "Vater Europas". Der Europaname bezeichnet im 9. Jh. das durch Karl so ausgreifend erweiterte Frankenreich. Doch die Begriffe "regnum" (Königtum, Königreich) und "imperium" (Kaisertum, Kaiserreich) verdrängen in der Folgezeit den Begriff Europa.

3.3. Die Epoche der Kreuzzüge und der spanischen Reconquista fällt zusammen mit der Zentralisierung der lateinischen Kirche und der Stärkung der Stellung des Papstes sowie mit großen gesellschaftlichen Spannungen und Konflikten, die nun teilweise nach außen abgeleitet werden. Die am Ende des 11. Jhs. einsetzende Kreuzzugswerbung erklärt den Heidenkampf für religiös verdienstlich und lenkt den Blick der lateinischen Christen auf die Nichtchristen ("die Feinde Gottes"), hauptsächlich nach außen auf die Welt des Islam. Es wird in das Bewußtsein gehoben, daß die Expansion des Islam nicht nur das Grab Christi und die Stadt Jerusalem christlicher Herrschaft entrissen habe, sondern weite Teile Asiens, Afrikas und auch schon Teile Europas, daß die Christenheit eine Einheit und der Islam ingesamt, Sarrazenen (Araber) und (seldschukische) Türken, ihr Gegner sei. Diese Vorstellungen werden nach dem ersten Kreuzzug und der Errichtung der (weiterhin auf Zuzug angewiesenen) Kreuzfahrerstaaten entwickelt. Sie bilden eine Entsprechung zur islamischen Unterscheidung der Welt in das "Haus des Islam" (dar al-islam), wo die Muslime herrschen und das Gesetz des Islam gilt, und das "Haus des Krieges" (dar al-harb), also die übrige Welt, wo dies (noch) nicht der Fall ist. Nach der zu Beginn des 12. Jahrhunderts entwickelten lateinisch-christlichen Vorstellung ist Europa mit der vom Islam bedrohten Christenheit identisch. Besonders klar formuliert dies um 1120 William von Malmesbury. Die Erde sei ungerecht verteilt. William hat die T-O-Karte vor Augen. Die Feinde Gottes besäßen Asien und Afrika, d.h. drei Viertel der Welt, die früher christlich gewesen seien, dazu besäßen sie von Europa, "unserem kleinen Rest der Welt", den sie ganz zu verschlingen hofften, bereits Spanien und die Balearen. Dem sollten die Kreuzfahrer wehren und ihre Kräfte anstatt im Inneren in ungerechten "Bürgerkriegen" vielmehr draußen im gerechten Heidenkampf erproben.


















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