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Europa in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts





By Axel Knoche of Justus-Liebig-Schule Waldshut, GERMANY, 1998

Contribution to the EDUVINET "European Identity" subject







Beiträge zur Entwicklung einer europäischen Identität

In diesem Vortrag versuche ich, Stellung zu nehmen zu drei Fragen, wie sie auch im Thesenpapier zu dieser Tagung niedergelegt sind.

  1. Welche Entwicklungen und Ereignisse können zu einem europäischen Bewußtsein beitragen bzw. Was ist uns Europäern gemeinsam?
  2. Welche Gedanken und Verhaltensweisen haben in Europa zu Katastrophen geführt und müssen vermieden werden?
  3. Welche historischen Begebenheiten fördern das Verständnis für aktuelle Probleme der EU?

Zentrales Ereignis in der 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts ist für mich in Europa der 1. Weltkrieg. Deshalb möchte ich auch aus dem Erleben des 1. Weltkriegs Antworten auf die obigen Fragen ableiten. Wenn ich dies tue, dann nicht als Historiker, sondern als Lehrer einer weiterführenden Schule, d.h. mit der Intention, jungen Erwachsenen (Alter 16-20 Jahre), hierbei vor allem jungen Frauen Einsicht in geschichtliche Prozesse zu vermitteln, um daraus mögliche Verhaltensweisen für die Gegenwart und Zukunft abzuleiten.

Um dies zu erreichen habe ich Quellen ausgewählt, die möglichst nah am Erfahrungshorizont von Schülern liegen, d.h. die Autoren der Quellen sind etwa aus der gleichen Altersgruppe. Außerdem möchte ich die Erfahrung des 1. Weltkrieges nicht nur auf der internationalen und nationalen Ebene verdeutlichen, sondern auch auf der individuellen Ebene.

Im ersten Teil meiner Ausführungen werde ich nun versuchen, am Beispiel des 1. Weltkrieges Antwort auf die erste Frage "Was ist uns Europäern gemeinsam?" auf eben diesen drei Ebenen zu geben.

Auf internationaler Ebene bedeutet der 1. Weltkrieg für Europa das Ende europäischer Vormachtstellung in der internationalen Politik, in der Wirtschaft und in der Kultur. Der Eintritt der USA in den 1. Weltkrieg 1917 bedeutet gleichzeitig das Ende der Monroe-Doktrin und den Beginn eines größeren weltpolitischen Engagements der USA und damit auch den Beginn eines größeren Einflusses der USA auf Europa. Als Beispiele für dieses Engagement möchte ich in der Politik Wilsons 14 Punkte sowie die Idee des Völkerbundes nennen, in der Wirtschaft den Fluß von US-Kapital nach Europa, was die Voraussetzungen für die sogenannten "goldenen zwanziger Jahre" schuf und in der Kultur beispielsweise den Einfluß des Jazz auf die Musik in Europa.

Die zweite europäische Gemeinsamkeit auf internationaler Ebene sind die Probleme, die der Friedensvertrag von Versailles schafft, vor allem durch die Festlegung der alleinigen deutschen Kriegsschuld und der daraus folgenden Reparationsverpflichtungen sowie die Festlegung der Nachkriegsgrenzen.

Deshalb macht der Versailler Friedensvertrag eine Annäherung zwischen Deutschland und Frankreich notwendig. In einem Brief an den ehemaligen deutschen Kronprinzen formuliert der deutsche Außenminister am 7. September 1925 (s. Anhang 1) vor allem drei Ziele der deutschen Außenpolitik:

  1. Lösung der Reparationsfrage
  2. Sicherung des Friedens
  3. Freiwerden deutschen Landes von fremder Besatzung.

Um diese Ziele zu erreichen, kommt Deutschland den Sicherheitsinteressen Frankreichs im Vertrag von Locarno (1925) entgegen. Im Gegenzug willigt Frankreich in eine Reduzierung der deutschen Reparationszahlungen ein und beendet die Besetzung des Ruhrgebietes durch französische Truppen. Sowohl der deutsche Außenminister Gustav Stresemann als auch sein französischer Amtskollege A. Briand erhalten im übrigen für diese Leistung den Friedensnobelpreis des Jahres 1926.

Weiterhin macht der Versailler Friedensvertrag aus deutscher Sicht eine verstärkte internationale Zusammenarbeit nötig. Um die 1925 in der bereits genannten Quelle formulierten außenpolitischen Ziele Schutz der Auslandsdeutschen und Korrektur der Ostgrenze zu erreichen, tritt Deutschland 1926 in den Völkerbund ein. Durch deutsches Engagement im Rahmen des Völkerbundes hofft Außenminister Stresemann internationales Vertrauen in Bezug auf Deutschland zu stärken, was die Durchsetzung der o.g. Ziele nur erleichtern kann.

Der Zusammenbruch Österreich-Ungarns mit dem Ende des 1. Weltkrieges und die daraus resultierende Entstehung neuer Staaten stelle m.E. ein weiteres gemeinsames europäisches Problem dar. So führt die Versailler Festlegung der Grenzen auf dem Balkan zum Beispiel zur Entstehung der Tschechoslowakei, was zu innenpolitischen Auseinandersetzungen zwischen Tschechen und Slowaken führt, Auseinandersetzungen, die infolge des Zusammenbruchs der Sowjetunion in zwei voneinander unabhängige Staaten Tschechien und Slowakei im Jahre 1993 münden.

Damit aber bedeutet der Versailler Friedensvertrag international nicht nur eine Belastung für das deutsch-französische Verhältnis, sondern trägt auch zu Destabilisierung des Balkans bei. Die zweite Ebene, die nationalen Auswirkungen des 1. Weltkrieges, ist natürlich aus deutscher Sicht interessant, hat aber auch gesamteuropäische Bedeutung, da sie die Keimzelle für die Machtübernahme der Nationalsozialisten in Deutschland und damit den Ausbruch des 2. Weltkrieges bildet.

Innenpolitisch bedeutet die Niederlage im 1. Weltkrieg den Zusammenbruch des deutschen Kaiserreiches. Als Mitverantwortlicher für das militärische Desaster geht Kaiser Wilhelm II. 1918 ins Exil nach Holland. Dieser Zusammenbruch hat in weiten Kreisen der deutschen Bevölkerung weitreichende ideelle Konsequenzen, denn prägend für die Zeit von 1871-1918 war die Identifikation vor allem des Bürgertums mit militärischen Tugenden wie Disziplin, Gehorsam, Unterordnung, Pflichterfüllung, Pünktlichkeit und Fleiß. So wurde der Reserveoffizier zum bürgerlichen Leitbild dieser Zeit. Gleichzeitig führt die Übernahme dieser Tugenden zu einer Hörigkeit gegenüber staatlichen Organen und Identifikation mit dem Staat in der Person des Kaisers. Interessant in diesem Zusammenhang ist die offizielle Darstellung Kaiser Wilhelm II. in gleicher Pose wie Ludwig XIV. (s. Anhang 2). Damit werden absolutistische Herrschaftsvorstellungen¸so das "Letat, cest moi" sowie der Glanz des Sonnenkönigs auf Wilhelm II. übertragen. Er erscheint damit als Inkarnation der deutschen Nation.

Mit dem Zusammenbruch des Kaiserreiches bricht so auch das bürgerliche Weltbild zusammen, ein Weltbild, das das demokratische System der Weimarer Republik nicht ersetzen kann. In diesem Zusammenhang läßt sich die wachsenden Popularität der Nationalsozialisten erklären, die genau diesem Bedürfnis nach Ruhe, Ordnung, nach nationaler Größe sowie nach den o.g. Tugenden des Kaiserreiches entgegenkommen, was dann auch am 30. Januar 1933 zur Ernennung Hitlers zum Reichskanzler führt.

Deutlicher als auf der nationalen Ebene werden die europäischen Gemeinsamkeiten infolge des 1. Weltkrieges auf der persönlichen Ebene dem persönlichen Erleben des Krieges. Sowohl französische, englische wie deutsche Soldaten leiden unter der Neuartigkeit dieses Krieges. Neu ist zum einen die Technisierung des Krieges durch neue Waffensysteme wie Panzer, U-Boote, Flugzeuge, Maschinengewehre und Gas. Diese Waffensysteme führen zu einer veränderten Kriegsführung, zum Stellungskrieg und zur Materialschlacht. Daraus ergibt sich aber auch eine neuartige Bedrohung des einzelnen Soldaten. Es wird nicht mehr Mann gegen Mann gekämpft, statt dessen wird die Quantität und Qualität des Materials immer wichtiger. Damit tritt der Mensch immer mehr in den Hintergrund., der Soldat wird zum Wurm im Schützengraben, was zu enormen psychischen Belastungen der Soldaten führt.

Der 1. Weltkrieg wird von allen Soldaten als existentielle Bedrohung des Menschen und Gefährdung der Humanität durch die Technik empfunden. Briefe gefallener Soldaten sowie die spätere Verarbeitung dieses Erlebnisses in Filmen wie "Im Westen nichts Neues" legen für diese Bedrohung deutliches Zeugnis ab (s. Anhang 3).

Die gemeinsame Bedrohung durch die Technik bildet nach Kriegsende auch die Basis für eine gemeinsame Verarbeitung des Kriegserlebnisses über die nationalen Grenzen hinweg. So treffen sich ehemalige Kriegsgegner zur Einweihung von Kriegsdenkmälern z.B. in Freiburg (s. Anhang 4). Es entstehen Städtepartnerschaften, eine internationale Pazifismusbewegung sowie eine internationale Jugendbewegung, wo in internationalen Jugendcamps eine Auseinandersetzung mit der älteren Generation über den 1. Weltkrieg stattfindet.

Auch zur Beantwortung der zweiten zentralen Frage: "Welche Gedanken und Verhaltensweisen führen in die Katastrophe des 1. und 2. Weltkriegs" möchte ich die drei Ebenen heranziehen.

Auf der internationalen Ebene bildet meiner Meinung nach ein übersteigerter Nationalismus in Europa eine wichtige Rolle, ein Nationalismus, der das Eigene als überlegen, das Andere aber als unterlegen begreift. Diese Haltung drückt sich z.B. in einem deutschen Sendungsbewußtsein aus unter dem Schlagwort "Am deutschen Wesen soll die Welt genesen!". Voraussetzung einer solchen Außenpolitik ist eine schlagkräftige Flotte, so daß das Flottenbauprogramm des Kaiserreichs zur zwingend notwendigen nationalen Aufgabe wird. Daß diese Außenpolitik zu einer Infragestellung, wenn nicht gar Gefährdung des englischen Weltmachtanspruchs führt, sowie die Tatsache, daß eine deutsche Flotte eine Ernst zu nehmende Konkurrenz für die englische Flotte darstellt, wird von deutscher Seite ebenso willentlich in Kauf genommen wie der sich daraus ergebende Rüstungswettlauf mit England. So erwachsen aus einem übersteigerten Nationalgefühl heraus internationale Spannungen, die sich schließlich im 1. Weltkrieg entladen.

Doch das Gefühl eigener nationaler Überlegenheit als Handlungsmuster im Umgang mit anderen Staaten wird durch den 1. Weltkrieg nicht beseitigt. Als überlegener Sieger über Deutschland setzt Frankreich im Friedensvertrag von Versailles in Artikel 231 durch, daß Deutschland die alleinige Kriegsschuld für den Krieg zu tragen hat. Die Folgen des Kriegsschuldartikels werde ich auf der nationalen Ebene noch näher erläutern. Aber auch auf deutscher Seite wird die Problematik dieses Überlegenheitsgefühls nach dem 1. Weltkrieg nicht erkannt. Der deutsche Außenminister G. Stresemann erhält zwar für die Aussöhnung zwischen Deutschland und Frankreich zusammen mit seinem Amtskollegen A. Briand 1926 den Friedensnobelpreis, seine Haltung gegenüber dem östlichen Nachbarn Polen offenbart jedoch wiederum dieses fatale Überlegenheitsgefühl. Seiner Meinung nach läßt sich das außenpolitische Ziel einer Revision der deutschen Ostgrenze gegenüber Polen nur dann durchsetzen, wenn "die wirtschaftliche und finanzielle Notlage Polens den äußersten Grad erreicht und den gesamten polnischen Staatskörper in einen Zustand der Ohnmacht gebracht hat." (s. Anhang 5). Deshalb sei "eine endgültige und dauerhafte Sanierung Polens ... lange hinauszuschieben." (Anhang 5):

Diese Haltung gegenüber Polen versucht der Nationalsozialismus auch biologisch zu untermauern, indem er von Polen und anderen osteuropäischen Völkern als "Untermenschen" spricht, die als angeblich weniger wertvolle Völker den wertvollen Lebensraum für das deutsche Volk besetzt halten. Folgerichtig beginnt deshalb der Nationalsozialismus den Eroberungskrieg 1939 in Polen.

Auch in der heutigen Bundesrepublik läßt sich m.E. ein Überlegenheitsgefühl gegenüber Polen feststellen. So werden z.B. Polen als untertariflich bezahlte billige Arbeitskräfte auf deutschen Baustellen eingesetzt. Nach dem Fall der Mauer hat sich außerdem in vielen deutschen Köpfen das Bild von Polen als Autoschieber und Zigarettenschmuggler verfestigt, nicht zuletzt geprägt durch entsprechende Presseberichte.

Damit führte Nationalismus als Überlegenheit des Eigenen nicht nur in den 1. und 2. Weltkrieg, sondern er steht auch heute einer Aussöhnung und normalen nachbarschaftlichen Beziehungen zwischen dem deutschen und dem polnischen Volk im Wege.

Auf der nationalen Ebene hat die Demonstration nationaler Überlegenheit Frankreichs, ausgedrückt im Artikel 231 des Versailler Vertrages fatale Folgen. Die alleinige Schuld am 1. Weltkrieg wird in Deutschland als kollektive Schmach empfunden und verstärkt damit das deutsche Nationalgefühl, statt eine kritische Auseinandersetzung mit ihm zu ermöglichen. Vor allem von der politischen Rechten werden Politiker, die sich für die Erfüllung der Auflagen des Versailler Friedensvertrages einsetzen, als Erfüllungspolitiker diffamiert und als Vaterlandsverräter ermordet (Außenminister Rathenau 1922, Innenminister Erzberger 1921).

Aber nicht nur die politische Rechte hofft auf ein Wiedererstarken Deutschlands, um die Schmach von Versailles zu tilgen. Auch die politische Mitte träumt diesen Traum, so daß die Weigerung der Regierung Hitler, weiterhin Reparationen zu zahlen sowie die Rüstungsbegrenzung und die Entmilitarisierung des Rheinlandes einzuhalten auf breite Zustimmung der Bevölkerung trifft und die Popularität des Nationalsozialismus steigert. Im Jahre 1941 schließlich ziehen deutsche Soldaten in den Krieg gegen Frankreich mit dem Slogan:"Rache für die Schmach von Versailles." So bereitet die Demonstration französischen Überlegenheitsgefühls 1918 auf deutscher Seite den Boden für den 2. Weltkrieg. Auf der persönlichen Ebene bedeutet Nationalismus in erster Linie eine Identifikation des Einzelnen mit dem Staat, was sich auf deutscher Seite in Patriotismus äußert. Liest man die Kriegsbriefe gefallener deutscher Studenten (Anhang 3), so ist aus heutiger Sich die Euphorie erstaunlich, mit der knapp 20-jährige Studenten 1914 in den Krieg ziehen. Sie empfinden Pflichtgefühl gegenüber ihrem Vaterland, sind bereit, ihr eigenes Leben zu opfern und glauben an den Heldentod fürs Vaterland.

Parallel zu dieser Identifikation mit dem Staat fand außerdem eine Identifikation mit den großen Männern der Politik statt. So werden Politiker bewußt als Symbolfiguren der Nation, als Vaterfiguren aufgebaut. Wilhelm II. wird z.B. in gleicher herrischer Pose dargestellt wie Ludwig XIV., so daß der Satz Ludwigs XIV. "Letat, cest moi" auch auf Wilhelm übertragen wird (Anhang 2, Bild 1,2). Die Folge dieser Art von Identifikation mit den Vätern der Nation ist zum Teil blinder Glaube an diese Symbolfiguren sowie blindes Vertrauen in die Richtigkeit deren politischen Handelns. Die traditionelle Erziehung zu den preußischen Tugenden Gehorsam, Pflichterfüllung, Disziplin und Unterordnung nach dem Motto:" Im Hause muß beginnen, was leuchten soll im Vaterland" (Mathesius 1860) zeigt hier auf fatale Weise ihre Wirkung.

Auch in der Weimarer Zeit spielt diese Identifikation mit Vaterfiguren eine große Rolle. Um Vertrauen für den neuen Reichskanzler Hitler bei den Kritikern der Nationalsozialisten zu schaffen, wird 1933 auf einem Wahlplakat der Nationalsozialisten (Bild 3) Hitler mit Hindenburg gezeigt. Damit knüpfen die Nationalsozialisten in dieser Photomontage bewußt an die Tugenden der Kaiserzeit, repräsentiert durch den Reichspräsidenten und ehemaligen Chef der Obersten Heeresleitung im 1. Weltkrieg, Hindenburg, an. Diese Verbindung von preußischen Tugenden und rassepolitisch gefärbtem Nationalismus in Form von Vaterfiguren bildet eine Grundlage für die Entwicklung, die halb Europa 1945 in Schutt und Asche legte. Eine Reduzierung des Vaterlandes auf eine Vaterfigur findet auch heute statt in dem Versuch, den europäischen Einigungsprozeß symbolisch darzustellen. Sowohl Bild 4 als auch Bild 5 beziehen ihre Wirkung auf den Einzelnen aus dieser Reduzierung.

Doch halte ich diese Reduzierung auf die "Macher der Politik" nicht nur aus den bisher erwähnten historischen Gründen für problematisch, sie lädt auch zu Passivität des Einzelnen im europäischen Einigungsprozeß ein nach der Devise, die da oben werden schon wissen was sie machen. Fallen dann die Entscheidungen der Vaterfiguren anders als erwartet aus, so verkehrt sich diese Passivität schnell in Resignation: wir hier unten haben ja sowieso nichts zu sagen. Beide Haltungen, sowohl Passivität als auch Resignation sind dem europäischen Einigungsprozeß unterhalb dem der Regierungen auf fatale Weise abträglich. Auf die Frage, welche Gedanken und Verhaltensweisen in die Katastrophen des 1. und 2. Weltkrieges führen, möchte ich auf der persönlichen Ebene noch einen letzten Aspekt beleuchten. Als Lehrer einer beinahe ausschließlich von Mädchen besuchten Schule läßt sich die Reaktion von Schülerinnen auf die Bilder 1-5 klar voraussagen. Sie werden es als Fehler ansehen, daß die Politik in diesem Jahrhundert im wesentlichen von Männern gestaltet wurde. Ganz unrecht haben sie dabei m.E. nicht, denn eine weitere Verhaltensweise ist mitverantwortlich für die Katastrophen des 1. und 2. Weltkrieges, nämlich eine falsch verstandene Männlichkeit. Sieht man sich die bereits erwähnten Kriegsbriefe gefallener Studenten (Anlage 3) an, so definiert sich Männlichkeit vor allem als Stärke, Mut, Pflichtbewußtsein und Opferbereitschaft bis hin zum Helden tod für das Vaterland. Sicherlich sind auch heute Tugenden wie Mut, Pflichtbewußtsein und Opferbereitschaft nötig, nur sind diese Tugenden weder typisch männlich noch darf ihre Zielrichtung eine nationale sein. Ziel dieser Tugenden sollte vielmehr in der Achtung der Individualität des Mitmenschen liegen, wobei es keine Rolle spielen darf, welcher Nationalität der Mitmensch angehört. Damit werden aus den ehemals national ausgerichteten Tugenden soziale, also z.B. soziales Pflichtgefühl und soziale Opferbereitschaft.

Aus dem bisher Gesagten lassen sich zusammenfassend vier Thesen formulieren, wie der 1.Weltkrieg Anregungen zum Verständnis und zur Bewältigung aktueller Probleme der EU geben kann:

  1. Europa kann kein Europa der Vaterländer sein, in dem sich die Nationen durch vermeintliche Überlegenheit abgrenzen.
  2. Europa hat nur eine Chance, wenn es ein Europa der Regionen wird, d.h., wenn auf regionaler Ebene zusammengearbeitet wird.
  3. Europa hat keine Chance, wenn es von großen Männern gemacht wird, vielleicht entsteht es im zwischenmenschlichen Kontakt.
  4. Europa bedarf sehr wohl traditioneller Tugenden, nämlich sozialem Pflichtbewußtsein und sozialer Opferbereitschaft in Form von Solidarität und Subsidiarität.








Anhang 1


Aus einem Brief Stresemanns an den ehemaligen deutschen Kronprinzen (7. September l925)


Die deutsche Außenpolitik hat noch meiner Auffassung für die nächste absehbare Zeit drei große Aufgaben:
Einmal die Lösung der Reparationsfrage in einem für Deutschland erträglichen Sinne und die Sicherung des Friedens, die die Voraussetzung für eine Wiedererstarkung Deutschlands ist
Zweitens rechne ich dazu den Schutz der Auslandsdeutschen, jener zehn bis zwölf Millionen Stammesgenossen, die jetzt unter fremdem Joch in fremden Ländern leben.
Die dritte große Aufgabe ist die Korrektur der Ostgrenzen: die Wiedergewinnung Danzigs, des polnischen Korridors und eine Korrektur der Grenze in Oberschlesien.
Im Hintergrund steht der Anschluß von Deutsch-Österreich, obwohl ich mir klar darüber bin, daß dieser Anschluß nicht nur Vorteile für Deutschland bringt, sondern das Problem des Deutschen Reiches sehr kompliziert
Wollen wir diese Ziele erreichen, so müssen wir uns auch auf diese Aufgaben konzentrieren. Daher der Sicherheitspakt (Locarno), der uns einmal den Frieden garantieren und England sowie, wenn Mussolini mitmacht. Italien als Garanten der deutschen Westgrenze festlegen soll. Der Sicherheitspakt birgt andererseits in sich den Verzicht auf eine kriegerische Auseinandersetzung mit Frankreich wegen der Rückgewinnung Elsaß-Lothringens, einen deutschen Verzicht, der aber insoweit nur theoretischen Charakter hat, als keine Möglichkeit eines Krieges gegen Frankreich besteht ( )
Die Frage des Optierens zwischen Osten und Westen erfolgt durch unseren Eintritt in den Völkerbund nicht. Optieren kann man ja übrigens nur, wenn man eine militärische Macht hinter sich hat Das fehlt uns leider.
Das Wichtigste ist für die 1. berührte Frage der deutschen Politik des Freiwerden deutschen Landes von fremder Besatzung. Wir müssen den Würger erst vorn Hals haben. Deshalb wird die deutsche Politik, wie Metternich von Österreich wohl noch 1809 sagte. In dieser Beziehung zunächst darin bestehen müssen, zu finassieren und den großen Entscheidungen auszuweichen.

(Gustav Stresemann, Vermächtnis, Berlin 1932, B. II, S. 553f.)








Anhang 2


2.1




2.2




2.3




2.4











Anhang 3: Kriegsbriefe gefallener Studenten

hg. v. Wiltkop, München 1928 ( S. 7-9, 12, 19-21, 345, 349)



Walter Limmer, stud.iur., Leipzig,
geb. 22.8.1890 zu Thiergarten bei Plauen im Vogtl.,
gest. 24.9.1914 in Luxemburg an einer Verwundung vom 16. bei Chalons sur Marne.

Leipzig (leider immer noch), 3. August 1914.
Hurra! endlich habe ich meine Beorderung: morgen vormittag 11 Uhr in einem hiesigen Lokal. Stunde um Stunde habe ich auf meinen Befehl gewartet. Heute vormittag traf ich eine junge bekannte Dame; ich schämte mich fast, mich in Zivilkleidern vor ihr sehen zu lassen. Auch Ihr, meine guten Eltern werdet mir recht geben: ich gehöre nicht mehr ins friedliche Leipzig. Liebe Mutter, halte Dir bitte, bitte immer vor Augen, was ich seit gestern (dem Abschied von daheim) im Wechsel der Stimmungen gelernt : Wenn wir in diesen Zeiten an uns und unsere Angehörige denken, werden wir klein, schwach. Denken wir an unser Volk, ans Vaterland, an Gott, an alles Umfassende, so werden wir mutig und stark.

Südlich von Chalons, 7. August 1914.
Immer noch wütet diese fürchterliche Schlacht, nun schon den vierten Tag! Bis jetzt bestand sie, wie fast jedes Gefecht in diesem Krieg, beinahe nur in furchtbaren Artilleriekämpfen. Diesen Brief schreibe ich in einem grabartigen, etwa 40 cm tiefen, selbstgeschaufelten Lager der Schützenlinie. Die Granaten schlugen heute vor und hinter uns so häufig ein, daß man es als ein Geschenk Gottes betrachten muß, wenn man heil davonkam.

Attiguy, 20. September 1914.
Meine lieben, guten Eltern, teure Geschwister! Ja, ich kann es selbst noch nicht recht fassen, aber es ist wahr, ich bin (verwundet) auf dem Wege zu Euch und zur Heimat. Oh, was ich glücklich bin, wieder eine lichtere Welt zu sehen als diese Welt des Schreckens! ...






Benno Ziegler, stud.med., Freiburg i.B.,
geb. 29. Mai 1892 in Überlingen,
gef. 8. Oktober 1914 bei Annay.

Im Felde, den 14. September 1914.
Wolle nur die Hand Gottes, die mich bisher so gütig durch alle Fährnisse und Mühen als Unversehrter geführt, auch fürderhin über mir ruhen und ich werde es an mir nicht fehlen lassen, auch ein Mann zu sein, wenn ich heimkehren sollte. Darauf hoffe ich mehr denn je scheint doch tatsächlich der Höhepunkt des Kriegsschreckens erreicht zu sein. O Gott! waren das oft Stunden, wenn rechts und links der grausame Tod furchtbare Ernte hielt, wenn man einen fallen sah vornüber aufs Gesicht man kennt ihn nicht gleich mit zitternder Hand kehrt man das blutüberströmte Gesicht um o Gott! du bists! Warum auch gerade du! Und wie oft ist das geschehen! ...






Franz Blumenfeld, stud. iur., Freiburg i.B.,
geb. 26. September 1891 in Hamburg,
gef. 18. Dezember 1914 bei Contalmaison.

Freiburg, 1. August 1914.
...Wenn jetzt mobilgemacht wird, muß ich mich ja doch stellen; und da möchte ich mich selbstverständlich lieber hier stellen, wo ich doch Aussicht habe, bald mitzukommen, als in Travemünde, Hamburg oder Bahrenfeld, wo man uns wahrscheinlich nur dazu verwenden würde, den Nordostsee-Kanal zu bewachen. Und ich kann mir nichts Schrecklicheres denken, als irgendwo untätig zu Hause bleiben zu müssen, wenn draußen Krieg und Kampf ist. Du mußt nicht glauben, daß ich Dir dieses in einer Anwandlung von Kriegsbegeisterung schreibe: Im Gegenteil, ich bin ganz ruhig und kann die Begeisterung, mit der manche Leute hier in den Krieg wollen, absolut nicht mitmachen. Ich glaube auch immer noch nicht, daß er kommt, er scheint mir zu unmöglich, ich denke ganz sicher, daß es bei der Mobilmachung bleiben wird. Aber wenn es losgeht, dann verstehst Du auch, daß ich nicht irgendwo daheim bleiben will? Ich weiß, daß Du eine liebe, verständige, gute Mama bist und auch nicht willst, daß Deine Söhne in einer großen Gefahr feige und vorsichtig hinten bleiben...






Gottfried Schmidt, Abiturient, Leipzig,
geb. 1. Februar 1899 in Leipzig,
gef. 31. Oktober 1918 bei Worteghem in Flandern.

5. August 1918.
Um 5 Uhr Nachmittag erhielt ich den langersehnten Befehl, morgen 4.30 mich in der Feuerstellung zu melden. Nun endlich kann ich mein geliebtes Vaterland selbst verteidigen helfen! Sorgt Euch nicht, mein Leben steht in Gottes Hand.

Beobachtung, den 2. Oktober 1918.
Wir ziehen jetzt wieder öfters um, so daß man wenig Ruhe hat. "Rückwärts, rückwärts Don Rodrigo!" Es ist ein Jammer: immer zurück! Schlimm sind ja die politischen Ansichten. Ich kann nicht glauben, daß ein Volk, das sich so unvergleichlich heldenhaft geschlagen hat, untergehen soll.






Paul Boelicke, stud. theol., Berlin,
geb. 17. März 1898 in Bukarest,
gest. 12. Oktober 1918 im Walde von Siory vor Verdun.

16. März 1918, vor Verdun.
Es ist der letzte Abend meines zwanzigsten Lebensjahres. Ich nehme heut einen doppelten Abschied: nicht nur von meinem alten Lebensjahr, auch von dem Teil des französischen Landes, der eine so große Rolle in meinem Leben gespielt hat: von Verdun. Verdun, ein furchtbares Wort! Unzählige Menschen, jung und hoffnungsvoll, haben hier ihr Leben lassen müssen -ihre Gebeine verwesen nun irgendwo, zwischen Stellungen, in Massengräbern, auf Friedhöfen. Kommt der Soldat morgens aus seinem Granatloch (viele sind ganz voll Wasser), so sieht er im hellen Sonnenschein die Türme des Douaumont oder eines anderen Forts, die ihre Augen drohend ins Trichterland richten. Ein Schütteln packt ihn, wenn er seine Blicke rundum schickt: hier hat der Tod seine Knochensaat ausgesät. Die Front wankt, heute hat der Feind die Höhe, morgen wir, irgendwo ist hier immer ein verzweifelter Kampf. Mancher, der sich eben noch der warmen Sonne freute, hört es schon irgendwo aufbrüllen und heulend herankommen. Dahin sind alle Träume von Frieden und Heimat, der Mensch wird zum Wurm und sucht sich das tiefste Loch. Trommelfeuer Schlachtfelder, auf denen nichts zu sehen ist als erstickender Qualm üGas- Erdklumpen Fetzen in der Luft, die wild durcheinanderwirbeln: das ist Verdun!"








Anhang 4


Holger Skor:
Inszenierte Kriegserinnerung
Das deutsch-französische Frontkämpfertreffen in Freiburg 1937 als nationalsozialistischer Propagandacoup
aus: AK Regionalgeschichte Freiburg (Hrsg.): Kriegsgedenken in Freiburg. Trauer - Kult - Verdrängung, Freiburg 1995, S. 170, 176/77



"Wir vergessen nicht die 10 Millionen Holzkreuze" So kündete ein Spruchband, das sich am 4. Juli 1937 über die "restlos" beflaggte Bertholdstraße (sic) spannte. Anlaß für die Ausschmückung der Freiburger Innenstadt mit dieser und ähnlichen Banderolen, die dem für nationalsozialistische Großveranstaltungen charakteristischen Fahnenmeer seine inhaltliche Komponente verliehen, war der Besuch von etwa 1000 französischen Veteranen des Ersten Weltkriegs. Die "Anciens Combattants", die einstigen Frontkämpfer, die aus Besancon und Umgebung mit einem Sonderzug anreisten, waren bereits in Breisach, wo sie kurz Station gemacht hatten, ebenso herzlich empfangen worden wie bei ihrer Ankunft am Freiburger Bahnhof. Von einer außergewöhnlich gastfreundlichen Atmosphäre war dann auch der weitere Verlauf des Tages geprägt.

Das Programm, das man für die französischen Gäste vorbereitet hatte, war straff organisiert. Von der Begrüßung beim ersten Halt der französischen Veteranen diesseits des Rheins durch den Breisacher Bürgermeister, bei dem ein "riesiger Humpen Kaiserstühler nicht fehlen" durfte, über das Menü, das die "Führer" der französischen Delegation gemeinsam mit der deutschen "Prominenz" im Gasthof Römischer Kaiser einnahmen, bis hin zum freundschaftlichen Abschied am selben Abend auf dem Freiburger Bahnhof hat bereits Heiko Haumann den Verlauf dieses Tages detailliert nachgezeichnet...

...Gemeinsam ist allen Berichten über das Freiburger Treffen die wörtliche Wiedergabe von Ausschnitten der verschiedenen Reden, die schon beim Empfang am Bahnhof, vor allem aber während der Gedächtniszeremonie am "Ehrenmal der 113er" gehalten wurden. Schon die wenigen Worte des Freiburger Oberbürgermeisters Dr. Franz Kerber zur Begrüßung der französischen Delegation beinhalteten das Programm der Veranstaltung in komprimierter Form. Pathetische Beschwörungen des Friedens sollten die französischen Frontkämpfer auf den Tag in Freiburg einstimmen:

"Die zum Internationalen Frontkämpfertreffen vereinigten französischen und deutschen Kameraden mögen wissen, daß sie von der Bevölkerung mit ganzer Herzlichkeit aufgenommen sind. Wenn Gegner von einst die Welt des Mißtrauens in sich beseitigen und zusammentreffen, um sich verstehen zu lernen und gemeinsam der Opfer des Krieges zu gedenken, so ist in diesem Ereignis eine Demonstration für den Frieden zu erblicken, die Ehrfurcht gebietet und die ihre Wirkung auf die Völker trotz allem, was sich trennend dazwischen stellt, nicht verfehlen kann. In diesem Bewußtsein nehmen die Stadt und ihre Bewohnerschaft an der kameradschaftlichen Zusammenkunft französischer und deutscher Kriegsteilnehmer den freudigsten Anteil und grüßen in aufrichtiger Gesinnung die Gäste aus Frankreich"








Anhang 5

Gustav Stresemann über die deutsche Polenpolitik (19. 4.1926)

1. Eine friedliche Lösung der polnischen Grenzfrage, die unseren Forderungen wirklich gerecht wird, wird nicht zu erreichen sein, ohne daß die wirtschaftliche und finanzielle Notlage Polens den äußersten Grad erreicht und den gesamten polnischen Staatskörper in einen Zustand der Ohnmacht gebracht hat. Solange sich das Land noch irgendwie bei Kräften befindet, wird keine Polnische Regierung in der Lage sein, sich auf eine friedliche Verständigung mit uns über die Grenzfrage einzulassen.

2. Aber auch ganz abgesehen von der polnischen Einstellung ist die allgemeine politische Stellung Deutschlands, insbesondere im Verhältnis zu den Westmächten, einstweilen noch zu schwach, als daß wir unsere politischen Wünsche hinsichtlich Polens in einem internationalen Gremium mit einiger Aussicht auf Erfolg geltend machen könnten. [...]

3. Es wird also, in der großen Linie gesehen, unser Ziel sein müssen, eine endgültige und dauerhafte Sanierung Polens so lange hinzuschieben, bis das Land für eine unseren Wünschen entsprechende Regelung der Grenzfrage reif und bis unsere politische Machtstellung genügend gekräftigt ist. [...]

7. In sachlicher Hinsicht läßt sich zu der Grenzfrage selbst im Augenblick folgendes sagen:
Zu einer Zwischenlösung irgendwelchen Art dürfen wir es unter keinen Umständen kommen lassen. Als solche Zwischenlösung müssen alle diejenigen angesehen werden', die unseren bekannten Standpunkten in der ' östlichen Grenzfrage hinsichtlich des Korridors, Danzigs, Oberschlesiens und gewisser Teile von Mittelschlesien nicht gerecht werden. Dahin gehört z. B. die Regelung, die dem Korridor Autonomie verleiht, sei es zusammen mit Danzig, sei es in anderer Weise. Bei dem Auftauchen derartiger Gedanken muß die Gegenseite stets darauf hingewiesen werden, daß wir es für absolut unmöglich halten, die törichte Lösung des Versailler Vertrages durch andere törichte Lösungen zu ersetzen.

(G. Streumann, Schriften. Hrsg. von A. Harttung, Berlin 1976, S. 345ff.)















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