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Deutschland und Europa in der 2. Hälfte des 20. Jahrhunderts


Italian translation, English translation




By Edmund Ohlendorf of IWB Radolfzell e.V., GERMANY, 1997

Contribution to the EDUVINET "European Identity" subject







I. Warum war Europapolitik 40 Jahre lang so wichtig für Deutschland ?

Das Dritte Reich hatte versucht, große Teile Europas zu besetzen und seiner Herrschaft zu unterwerfen. Am Ende wäre das ein Europa unter dem Hakenkreuz geworden, eine Horrorvision, die - Gott sei Dank - durch die Niederlage Deutschlands nicht wahr wurde. Im Gegenteil, Deutschland verlor 1945 jeden Einfluß auf die europäische Geschichte und wurde zum Objekt alliierter Politik.

Verständlich, daß Haß- und Rachegefühle in den einst von Deutschland besetzten Völkern das Denken vieler Menschen bestimmte, und vor allem wollte man sicher sein, daß eine erneute Bedrohung durch Deutschland verhindert wurde.

Deswegen diskutierten die Alliierten schon während des Krieges verschiedene Modelle der territorialen Neuordnung Deutschlands. Dabei war Frankreich wohl am weitesten an einer Aufteilung Deutschlands interessiert, während die drei anderen Alliierten aus unterschiedlichen Motiven nach Kriegsende von ihren ursprünglichen Teilungsplänen wieder abrückten.

Im zweiten Weltkrieg wurden rd. 50 Mio. Menschen getötet, viele einst blühende Städte waren nur noch Ruinen und rd. 20 Mio. Flüchtlinge - allein in Europa - versuchten, eine neue Heimat zu finden. Die Jahre 1945 und 1946 waren Jahre, in denen große Teile der europ. Bevölkerung um das Überleben kämpften. In dieser Zeit des Elends und der Perspektivlosigkeit hielt Winston Churchill am 19. September 1946 eine bemerkenswerte Rede über die zukünftige Rolle Europas und auch über die Deutschlands und Frankreichs [Quelle: Züricher Rede Churchills vom 19.09.1946]

In dieser Rede sagte er: "Wir müssen eine Art Vereinigte Staaten von Europa errichten." Er sah darin die einzige Möglichkeit, die Schrecken der Vergangenheit zu überwinden, um den Völkern Europas eine Perspektive für ihre Erneuerung zu geben in Freiheit, Frieden und Sicherheit. Und er meinte weiterhin: "Der erste Schritt bei der Neubildung der europäischen Familie muß ein Zusammengehen zwischen Frankreich und Deutschland sein." Diese beiden Staaten sollten auf dem Kontinent zusammen die Führung übernehmen.

Aber das blieb zunächst eine Vision. In Wirklichkeit hatte der zweite Weltkrieg die Völker Europas so sehr geschwächt, daß sich die beiden neuen Weltmächte USA und SU die Beute teilen konnten. Das daraus entstandene Ordnungsprinzip, dort sowjetische Bedrohung, hier amerikanischer Schutz, bildete dann 40 Jahre lang den weltpolitischen Rahmen.

Der Eiserne Vorhang teilte sowohl Deutschland als auch Europa in eine westlich demokratische und eine östlich moskaudominierte Hälfte. Den Deutschen war klar, daß die Frage einer Wiedervereinigung fortan aufs Engste mit der Entwicklung Europas verbunden war. Und dies wurde auch als Ziel aller Politik in der Präambel des Grundgesetzes niedergeschrieben. [Quelle: Präambel des Grundgesetzes von 1949 und 1990]

Aber zunächst waren die Möglichkeiten einer eigenen aktiven deutschen Außenpolitik in Richtung auf eine Wiedervereinigung praktisch gleich Null. Auch eine Politik in Richtung auf die Schaffung von mehr europäischer Zusammenarbeit war äußerst begrenzt, obwohl es Versuche gab, den Vorschlag Churchills in Taten umzusetzen. [Quelle: Adenauer schlägt vollständige Union zwischen Frankreich und Deutschland vor, 7.03.1950]

Das tatsächliche Empfinden der Franzosen und wohl auch großer Teile des deutschen Volkes war zu dieser Zeit, 5 Jahre nach Ende des 2. Weltkrieges, noch nicht reif für solche Zukunftsperspektiven.

Die Furcht der Franzosen vor der potentiellen Waffenschmiede der Deutschen, dem Ruhrgebiet, saß tief und als der französische Außenminister Robert Schuman am 9. Mai 1950 den Vorschlag machte, die deutsche und die französische Produktion von Kohle und Stahl einer gemeinsamen deutsch-französischen Kontrolle zu unterstellen, begrüßte Bundeskanzler Adenauer das sogleich, denn jeder Schritt in Richtung auf eine europäische Zusammenarbeit paßte in seine Vision von einem Vereinigten Europa. Dieses werde, so erklärte er am 21. Mai 1950, unter Einschluß Großbritanniens einerseits niemals so stark sein, daß es eine Gefahr für eine der beiden Weltmächte (USA und UdSSR) darstellen könnte, aber andererseits stark genug sei, um sein Gewicht mit Erfolg in die Waagschale des Friedens zu werfen.

Aber erst der Ausbruch des Korea Krieges am 25. Juni 1950 bereitete in Europa den Nährboden für ein neues europäisches Sicherheitsdenken, das aber auch stark durch amerikanische Interessen überlagert wurde. Frankreich war in eine Zwickmühle geraten. Auf der einen Seite wurde es von Amerika gedrängt, einem Beitrag Deutschlands zur europäischen Verteidigung zu akzeptieren, was bei großen Teilen der französischen Bevölkerung auf Ablehnung stieß. Auf der anderen Seite brauchte man die USA und wollte doch nicht an Einfluß verlieren. Alle suchten nach Lösungen, die eine Unterwerfung Frankreichs unter den Willen Amerikas ausschlossen oder umgingen, die jedenfalls einer amerikanischen Tendenz entgegenwirkten, nach eigenem Interesse in Westeuropa zu entscheiden. Schumanplan und Plevenplan waren erdacht, um einem angelsächsischen Diktat in wichtigen Fragen der deutschen Entwicklung zu entgehen und um Frankreich einen bevorzugten Platz in allen Fragen der europäischen Entwicklung und seiner Diplomatie neuen Spielraum zu sichern (1). [Quelle: Pleven-Plan vom 24.10.1950, EVG, Europäische Verteidigungsgemeinschaft]

Neben Bemühungen um einen politischen Überbau, in dem die deutsche Entwicklung den ausschließlich amerikanischen Dimensionen entzogen werden sollte, vergaß niemand die rauhe Wirklichkeit, nämlich die Tatsache, daß Frankreich von den USA Kredite zur Überbrückung eines Haushaltsdefizits von 270 Milliarden Francs für 1951 erwartete. Diese Summe machte mehr als ein Drittel des Militärbudgets aus, das wegen der Anstrengungen für Indochina und der gleichzeitigen Verpflichtung zu zusätzlichen Ausgaben für die europäische Rüstung auf 850 Millarden und damit auf 12 v.H. des Bruttosozialprodukts angewachsen war. Alle diese Faktoren verschärften die Diskussion um die Außenpolitik, die nun in Frankreich erst richtig begann und nach drei Jahren mit einem eindeutigen Stop für den von Schuman, Pleven und Monnet begonnenen Weg endete (2).

Der entscheidenden Debatte [30. Aug.1954] in der Nationalversammlung war eine ungeheure Kampagne vorausgegangen, in der Gaullisten und Kommunisten gelegentlich gemeinsam auftraten und in der wieder die alten Requisiten des Deutschenhasses, vom preußischen Militärstiefel, der alles zertritt, bis zur Karikatur des "boche" mit Stiernacken und niedriger Stirn hervorgeholt wurden. Aber im Kampf der Argumente, die die Gegner des Vertragswerks ins Feld führten, gab es Einwände, die ernster zu nehmen waren und auch die Nachdenklichen beeindruckten: "Wie sollen wir uns auf Gedeih und Verderb mit einer Bundesrepublik verbünden, die ein ungeheures Territorialproblem und eine ungelöste nationale Frage mit sich herumschleppt? Und wie sollen wir uns auf ein Verteidigungssystem verlassen, das durch die Bundesrepublik im Falle der Wiedervereinigung in einen Torso verwandelt werden kann?" (3).

Nun, wie wir inzwischen wissen, trat diese Situation 1990 nicht ein.

Aber kehren wir zurück in das Jahr 1954. Es war für Deutschland, für Frankreich und auch für Europa ein Schicksalsjahr. Frankreich hatte in diesem Jahr nicht nur in Indochina (Dien Bien Phu), sondern auch in Europa seinen Einfluß auf die Politik weitgehend verloren und nun den Amerikanern überlassen müssen, und das - wie wir inzwischen auch wissen - für mehr als 40 Jahre, bis hin zu Präsident Mitterrand.

Aber es gab bei unseren westlichen und nördlichen Nachbarn auch andere Überlegungen, insbesondere bei den Belgiern und Dänen. Gerade wegen des deutschen Problems unterstützte der belgische Außenminister Paul Henri Spaak eine Europäische Föderation und auch eine Europaarmee. Seine Parteigenossen forderte er auf, dem jungen westdeutschen Staat gegenüber "eine Politik des kühnen Vertrauens" zu betreiben und die Fehler westlicher Politik nach 1918 nicht zu wiederholen, "die später Hitler mit vollen Händen gaben, was sie der befreundeten Republik von Weimar verweigert" hätten. Die einzig mögliche Lösung des deutschen Problems liege "in der gleichberechtigten Eingliederung Deutschlands in eine europäische Föderation". In Spaaks Äußerungen und ähnlichen Überlegungen seiner Zeitgenossen spiegeln sich historische Erfahrungen mit dem europäischen Volk der Mitte wider. In der westeuropäischen bzw. europäischen Integration Deutschlands sahen sie den Schlüssel für eine dauerhafte Regelung der deutschen Frage. Diese Konzeption sei erfolgversprechender als der Versuch, sich einer politischen, wirtschaftlichen und militärischen Einbindung des westdeutschen Teilstaates bzw. ganz Deutschlands in die (west)-europäische Staatenwelt zu widersetzen. Spaak betonte in den sicherheits- und europapolitischen Debatten des belgischen Parlamentes daher wiederholt, daß niemand eine Neutralisierung und Entmilitarisierung Deutschlands auf Dauer garantieren könne. Vor einem neutralen oder auch vor einem neutralisierten Deutschland, das nicht europäisch eingebunden und allein auf sich bezogen sei, könne Sicherheit auf Dauer nicht garantiert werden. Deutschland sei daher als" militärisches Vakuum" im Herzen Europas, wie in der Deutschland- und Europadebatte des dänischen Folketing argumentiert wurde, eher eine Gefahr für Frieden und Stabilität in Europa (4).

Für Deutschland war das Jahr 1954 ein sehr erfolgreiches Jahr, denn in den Pariser Verträgen vom 23.10.1954 bekamen die Bundesrepublik

Bundeskanzler Adenauer hatte sein Ziel voll erreicht:

  1. Die Bundesrepublik fest einzubinden in die Westeuropäische Völkergemeinschaft gegen eigene Versuchungen einer neuen Schaukelpolitik zwischen Ost und West.
  2. Ein Höchstmaß an Sicherheit für die Freiheit Westberlins zu bekommen und
  3. Die Zusicherung der Westmächte, gemeinsam auf eine Wiedervereinigung Deutschlands hinzuwirken.

Der Preis, den Deutschland dafür zahlte, war etwa eine halbe Million Soldaten auszurüsten gegen einen eventuellen Angriff der Sowjetunion auf Westeuropa.

Aber damit war das tief sitzende Mißtrauen unserer europäischen Nachbarn vor einem Erstarken Deutschlands nicht prinzipiell gebannt. Da sowohl eine enge militärische als auch eine entsprechende politische Zusammenarbeit auf europäischer Ebene 1954 gescheitert war, versuchte man es mit der sogenannten Teilintegration auf wirtschaftlichem Gebiet. [Quelle: Adenauer sieht Teilintegration nur als ersten Schritt zur Gesamtintegration an, 29.04.1954]

Der Grundgedanke, daß wirtschaftliche Integrationserfolge zwangsweise politische nach sich ziehen, ist bis heute die Strategie führender europäischer Politiker und auch das Konzept des deutschen Bundeskanzlers Helmut Kohl geblieben. Diese Politik wird - wenn sie gelingt - mit der Einführung einer gemeinsamen Währung einen gewissen Abschluß erreicht haben. Wohlgemerkt, das Fernziel war immer eine politische Union Europas zur Verbannung des Krieges aus dieser Region. Die Mittel, dieses Ziel zu erreichen, bildeten wirtschaftliche Teilintegrationsschritte.

Aber ich möchte hier nicht die sehr erfolgreiche europäische Wirtschaftspolitik nachzeichnen, sondern zu meiner Ausgangsfrage zurückkehren:

Warum war Europapolitik 40 Jahre lang so wichtig für Deutschland?

Natürlich war die Wiedervereinigung beider Teile Deutschlands auf lange Sicht immer ein Wunsch westdeutscher Politik. Aber alle Akteure wußten nur zu gut, daß dieser Wunsch nur über eine völlige Veränderung der Lage in ganz Europa in Erfüllung gehen konnte. Timothy Garton Ash beschreibt das in seinem Buch: "Im Namen Europas" sehr treffend:

Während sich die Bonner Regierung für eine gesamteuropäische Lösung aussprach und einsetzte, dachte und arbeitete sie auch für eine gesamtdeutsche. Durch allenthalben demonstrativ friedliches, kooperatives und " europäisches" Verhalten baute die Bundesrepublik in West und Ost Vertrauenskapital auf, wie Genscher es nannte. Diese Vertrauensreserven wurden wie die DM-Reserven - und das Vertrauenskapital bestand ja auch aus dem Vertrauen in deutsches Kapital - mächtig und erfolgreich dazu eingesetzt, um die deutsche Vereinigung zu erlangen. Wenn Genscher sagte: "Unsere Außenpolitik ist um so nationaler, je europäischer sie ist", dann beschrieb er damit ein scheinbares Paradox - und eine wahre Zweideutigkeit.

Hier ist das deutliche Echo von Stresemann zu hören. Forscht man in der früheren Geschichte der deutschen Außenpolitik nach Parallelen, entdeckt man, daß sich die Beimischung von Adenauerschen und Bismarckschen Traditionen, wie Waldemar Besson sie 1970 identifizierte, in den achtziger Jahren mehr den Traditionen Stresemanns angenähert hatte - ein Modell, das Kohl wie Genscher freudig bestätigen sollten. Wie bei Stresemann gab es auch jetzt den Versuch, nationale und revisionistische Ziele durch die geduldige, aber aktive Rehabilitation Deutschlands innerhalb der internationalen Gemeinschaft zu erreichen, durch friedliche Verhandlungen, harmonisierendes Europaengagement und allseitige Aussöhnung - obwohl immer noch große qualitative Unterschiede zwischen den westlichen und östlichen Locarnos bestanden. Wie bei Stresemann gab es auch jetzt eine schwer zu analysierende Mischung aus echtem Europaengagement und genuinem Nationalismus, aus mehr oder weniger vorgespieltem Europaengagement für das Ausland, aber auch aus mehr oder weniger vorgespieltem Nationalismus für bestimmte Gruppen im eigenen Land, etwa die Deutschen aus den verlorenen Gebieten im Osten (5).

Der Vergleich mit der Stresemannschen Politik trifft sicherlich für die 80er Jahre kaum zu, denn der Kanzler Helmut Kohl hatte sich mit aller Kraft der Vision eines vereinten Europas verschrieben in den Grenzen der EG. Diese nach Südwesten zu erweitern und institutionell zu stärken, hatte eine größere Priorität als eine nach Osten gerichtete Politik. Diese ließ Außenminister Genscher jedoch nie ganz aus dem Auge.

Die Motive für eine Politik der engeren westeuropäischen Zusammenarbeit waren mehrere:

Als das - neben anderen Faktoren - auch für die Sowjetunion zutraf, waren die Tage der DDR gezählt.




II. Ist Europa auch weiterhin wichtig für ein wiedervereinigtes Deutschland?

Zunächst mußten wir Deutsche in den Jahren nach 1990 feststellen, daß eigentlich wiederum nur die Amerikaner, wie schon 1954 so auch 1989, keine Angst vor Deutschland hatten und mit einem geschlossenen Konzept sowohl die Sowjetunion als auch Großbritannien und Frankreich davon überzeugten, daß eine Wiedervereinigung beider Teile Deutschlands für Europa vorteilhafter sei als ein Fortbestand der Teilung.

Insbesondere Frau Thatcher und auch ein "großer Freund" Deutschlands, François Mitterrand, zeigten im Jahre 1990, daß ihr Denken noch stark im 19. Jh. verwurzelt war und die Deutschen können nur hoffen, daß dieses Denken bei großen Teilen der britischen und französischen Bevölkerung inzwischen überwunden ist.

Ulrich Albrecht, ein Beteiligter der 2+4-Verhandlungen hat uns in seinem Aufsatz: "Die internationale Regelung der Wiedervereinigung" einige Äußerungen zusammengestellt, die in Deutschland zum Nachdenken angeregt haben.

Die britische und französische Haltung ist einfach zu fassen. Man hatte sich auf das sowjetische Veto verlassen. Zumindest setzte man auf Zeit. Der Amerikaner Robert D. Blackwill befindet, erneut amerikanische Prioritäten wiedergebend: "Hätten Großbritannien und Frankreich zu wählen gehabt zwischen der Option, die deutsche Einheit im Interesse einer deutschen Zugehörigkeit zum atlantischen Bündnis schnell herbeizuführen, und der Option, ihre Vier-Mächte-Rechte so auszuüben, daß die beiden deutschen Staaten nur in einem langwierigen evolutionären Prozeß vereinigt würden, so hätten sie sich sicher für die zweite, aufschiebende Möglichkeit entschieden." FranVois Mitterrand reagierte im Februar 1990 wütend auf die ersten Zugeständnisse des sowjetischen Präsidenten. "Was fällt Gorbatschow eigentlich ein? Er versichert mir, er werde festbleiben, und er gibt alles her! Was hat ihm Kohl dafür gegeben? Wie viele Milliarden Mark?" Monate später, anläßlich einer Reise nach Moskau Ende Mai 1990 - die 2+4-Verhandlungen sind im vollen Gange - Mitterrand erneut: "Gorbatschow wird von mir verlangen, daß ich mich der deutschen Wiedervereinigung widersetze. Ich würde es mit Vergnügen tun, wenn ich glaubte, daß er bei der Stange bleibt. Aber warum soll ich mich mit Kohl überwerfen, wenn Gorbatschow mich drei Tage später fallenläßt?"

Margaret Thatcher schreibt wiederum sehr offen: "Wenn es einen Fall gibt, in dem ein von mir verfolgtes außenpolitisches Konzept ganz unzweideutig gescheitert ist, dann war dies meine Politik zur deutschen Wiedervereinigung." "Das Problem war", so Frau Thatcher weiter (sich auf ein Gespräch mit Mitterrand berufend), "daß in der Wirklichkeit es in Europa keine Kraft gab, die die Wiedervereinigung stoppen konnte." Auch Frau Thatcher meint fälschlicherweise, daß Gorbatschow von Kohl "gekauft" worden sei: "Das quid pro quo würde bald offenkundig werden. Auf dem Krimtreffen im Juli stimmte der westdeutsche Kanzler zu, eine Summe herzugeben, die den Sowjets gewaltig erscheinen mußte, obwohl sie faktisch weit mehr hätten herausholen können."

Die Einzelheiten des Umschwenkens der britischen und französischen Politik in der Frage der deutschen Vereinigung lassen sich nunmehr in amerikanischen Quellen nachvollziehen. Robert D. Blackwill gibt die zweite Aprilhälfte 1990, unmittelbar vor dem Beginn der 2+4-Verhandlungen auf Ministerebene, als Wendezeit an: "Der Präsident traf sich am 13. April auf den Bermudas mit Premierministerin Thatcher, am 19. April in Key Largo mit Präsident Mitterrand. Am 25. April hatte er ein langes Telefongespräch mit Kohl. Nach diesen intensiven Bemühungen des Präsidenten gaben die britische und französische Regierung schließlich ihre zögernde Haltung auf und erklärten erstmals ihre Bereitschaft, bei der Vereinigung ihre Vier-Mächte-Rechte zu beenden."

Die Veto-Koalition ließ sich schließlich nicht nur aus machtpolitischen Gründen nicht halten. Sie wäre beim Test auch deswegen gescheitert, weil die drei Mächte nicht offen gegen ein großes Prinzip der internationalen Politik, das Selbstbestimmungsrecht der Völker, auftreten konnten, zumal die verstärkte Achtung dieses Prinzips die weltpolitische Wende von 1989/90 geprägt hatte. So war es hier die seltene Parallelität von Machtinteressen mit einem grundlegenden politischen Prinzip, nicht aber die diplomatische Kunstfertigkeit einiger weniger politischer Persönlichkeiten allein, die zügig zur allgemeinen Zustimmung zur Neuvereinigung der Deutschen geführt hat (6).

Es ist bedauerlich, daß erst die Macht des Faktischen und Helmut Kohls Beschwörung, Präsident Mitterrand zum Umdenken bewegen konnten in Hinblick auf die weitere Rolle Deutschlands in Europa, ein neues Konzept zu entwickeln.

Im April 1990 breitete Mitterrand bei einem Treffen mit Kohl seine Vision von den "drei Kreisen" aus - ein geometrisches Bild, das den Historiker an einen früheren Gebrauch, mit recht unterschiedlichem Hintergrund, erinnert: hatte Churchill es doch 1953 für Adenauer auf die Rückseite einer Menükarte gekritzelt. [Quelle: Handzeichnung Winston Churchills]

Während Churchills drei Kreise - die Vereinigten Staaten, Großbritannien und das Commonwealth, das Vereinigte Europa - polyzentrisch, aber ineinandergreifend verliefen, waren Mitterrands Kreise konzentrisch. Den innersten Kreis bildeten Frankreich und Deutschland. Den nächsten der Rest der derzeitigen EG. Im dritten Kreis lag der ganze Kontinent Europa. Man könnte dies die kleineuropäische Idee nennen. Sie entsprang der (oder zumindest einer) Traditionslinie der ursprünglichen Europäischen Gemeinschaften aus den frühen fünfziger Jahren, noch mehr aber der Zeit nach dem Elysée-Vertrag zwischen Frankreich und der Bundesrepublik. Es war eine Vision von Europa, die Helmut Kohl sehr entspach (7).

Die Frage, ob Europa auch weiterhin wichtig für Deutschland ist, hängt sehr stark von Frankreich ab, denn ohne eine enge Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich - das hatte Winston Churchill schon 1946 gesagt - gibt es kein Wiedererstehen Europas als einer eigenständigen Kraft in der Weltpolitik.

Alle Staaten Europas sind heute allein zu schwach, um auf der Weltbühne etwas bewegen zu können. Deswegen bleibt ihnen eigentlich nur die Wahl zwischen einer immer dichteren Zusammenarbeit in Europa oder sie werden alle mehr oder weniger schnell Hilfsvölker oder Zulieferer amerikanischer Interessen.

Diese Entwicklung ist z.B. in der NATO oder in der Elektronik-Industrie und in der sich entwickelnden Informationsgesellschaft oder im globalen Kapitalverkehr voll im Gang. Eine kritische Einstellung zu diesem Phänomen ist kein Ausdruck antiamerikanischer Gefühle, sondern stellt die Frage, nach welchen Werten wir Europäer in Zukunft leben wollen. Gerade wir Deutsche haben gar keinen Anlaß, uns über die amerikanische Politik der letzten 50 Jahre zu beklagen, denn sie hat uns mehr gegeben, als Frankreichs "classe politique" 8) zu geben bereit war, und von Großbritannien reden wir hier lieber nicht.




III. Die "Europäische Identität", eine Zukunftsaufgabe für Deutschland in Europa ?

Die europafreundliche Politik Deutschlands hatte in der zweiten Hälfte des 20. Jh. im wesentlichen drei Motive:

  1. Die nationale Souveränität wiederzuerlangen, was nur durch eine Identifizierung mit den Interessen Westeuropas und denen der USA möglich war.
  2. Die teilweise Aufgabe nationaler Rechte zugunsten europäischer Institutionen war eine Möglichkeit, die Wiederbelebung nationalen Konkurrenzdenkens in Europa zu bannen und hegemoniale Denkstrukturen bei den Deutschen mehr auf kooperative Lösungen hin zu verändern (Zähmung deutscher Expansionsgelüste).
  3. Nur durch eine Identifikation mit einer gesamteuropäischen Friedensordnung war eine Wiedervereinigung beider Teile Deutschlands zu erlangen.

Nun könnte man meinen, daß eine europazugeneigte Politik Deutschlands bis in die 90er Jahre des 20. Jh. nur ein Instrument rein nationaler Interessen gewesen sei. Das allein trifft nicht zu. Und da alle drei oben genannten Motive für das 21. Jh. entfallen, muß die Frage, was Europa für Deutschland und für alle anderen europäischen Völker in Zukunft bedeuten soll, neu gestellt werden. D.h. konkret ausgedrückt:

Ist die Europäische Union eine supra- oder transnationale Organisationsweise, die mehr für ihre Bürger zu leisten vermag als der klassische Nationalstaat des 19.u. 20. Jh., und was sind wir bereit, dafür zu opfern ?

Die Mehrleistung würde bestehen in einem Mehr an:

Wenn man zu der Ansicht gelangt, daß die Europäische Union dies zu leisten vermag, dann wird das Problem einer mangelnden europäischen Identität nicht mehr lange bestehen. Aber offensichtlich gibt es große Teile der deutschen und auch der europäischen Bevölkerung, die nicht von solchen Leistungen überzeugt sind und nicht oder noch nicht einsehen können, daß eine Identifikation mit gesamteuropäischen Interessen mittel- und langfristig auch das eigene Wohlergehen besser zu fördern vermag als nationale Alleingänge, mögen solche auch kurzfristige Vorteile bringen.

Sicher wird kein Land in Europa einen europäischen Mehrwert zum Null-Tarif bekommen, und es wird sehr darauf ankommen, welchen Preis man für welchen Mehrwert zu zahlen bereit ist.

Gerade in diesem Kontext haben alle Bildungseinrichtungen eine große und verantwortungsvolle Aufgabe vor sich.









  1. WEISENFELD, Ernst: Frankreichs Geschichte seit dem Krieg
    Von de Gaulle bis Mitterrand
    (2. überarbeitete und ergänzte Aufl., Beck'sche Schwarze Reihe, Bd. 218, München 1982), S.81 f
  2. WEISENFELD, Ernst: Frankreichs Geschichte seit dem Krieg
    Ebd. S 72 f
  3. WEISENFELD, Ernst: Frankreichs Geschichte seit dem Krieg
    Ebd. S 83
  4. GRUNER, Wolf D.: Die deutsche Frage in Europa 1800-1990
    (Serie Piper, Bd. 1680, München 1993), S. 271
  5. GARTON ASH, Timothy: Im Namen Europas
    Deutschland und der geteilte Kontinent
    (Fischer Taschenbuch 13514, Frankfurt 1996), S. 523 f
  6. ALBRCHT, Ulrich: Die internationale Regelung der Wiedervereinigung
    Von einer "No-win" Situation zum raschen Erfolg
    (in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zur Wochenzeitung Das Parlament B 40/96,
    Bonn, 27. September 1996), S. 10 f
  7. GARTON ASH, Timothy: Im Namen Europas
    Ebd. 572
  8. FRITSCH-BOURNAZEL, Renata: Europa und die deutsche Einheit (Verlag Bonn aktuell, München, 1990), S. 242















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