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Europäische Identität als Lehr- und Lerngegenstand


Spanish translation, English translation, Italian translation, Polish translation




By Edmund Ohlendorf of IWB Radolfzell e.V., GERMANY, 1998

Contribution to the EDUVINET "European Identity" subject







1. Begriffsbestimmung

Identität bedeutet vollkommene Gleichheit zwischen zwei Dingen, eine Wesensgleichheit. Europäische Identität wäre nach diesem Wortsinn eine Wesensgleichheit zwischen allen Einwohnern Europas. Aber welches Europa ist gemeint? Eine geographische Bestimmung Europas ist nicht einfach und ein politisch klar definiertes Staatsgebiet Europa gibt es (noch) nicht. Wie können aber Personen mit etwas wesensgleich sein, was nicht genau definiert werden kann?

Nun könnte man vermuten, daß wenigstens alle Einwohner der Europäischen Union seit 1992 eine Wesensgleichheit mit dieser Union fühlen. Das ist aber nicht der Fall, denn ein europäisches Bürgerrecht, das zumindest eine juristische Identität begründen würde, gibt es nicht. Auf der anderen Seite fühlen sich z.B. Polen oder Ungarn durchaus als Europäer, ebenso wie Franzosen oder Deutsche. Dabei bezieht man die Wesensgleichheit auf einen sehr vagen Begriff einer gemeinsamen historischen Vergangenheit, die aber - bei näherer Betrachtung - häufig eher gegensätzlich als gemeinsam erfahren wurde.

Der tschechische Staatspräsident Václav HAVEL hat 1994 im Europäischen Parlament in Straßburg aus dem beschriebenen Widerspruch einen mutigen Ausweg gewiesen, indem er sagte: "Deswegen scheint es mir, daß die vielleicht wichtigste Aufgabe, der sich heute die Europäische Union gegenüber sieht, einhergeht mit einem neuen, aufrichtigen und klaren Nachdenken über das, was man europäische Identität nennen mag, einer neuen und wahrhaft klaren Benennung europäischer Verantwortung, einem verstärkten Interesse an einer echten europäischen Integration, an all ihren weiteren Verwicklungen in der gegenwärtigen Welt und an eine Erneuerung ihres Ethos oder, wenn Sie so wollen, ihres Charismas. [1]

Europäische Identität ist also kein feststehender Begriff, sondern die Aufgabe, eine solche Identität erst zu schaffen.




2. Bisherige Weisen der Identitätsstiftung

Diese Aufgabe gab es bereits schon einmal, als alle Nationen Europas daran gingen, ihre besondere Individualität zu entwickeln - gleichsam die Nationen zu erfinden. Der britische Historiker Eric HOBSBAWM sprach, um diese leidenschaftliche und kollektive Begeisterung für die Vergangenheit der Nation zu bezeichnen, zu Recht von einem Prozeß der "invention of tradition" [Erfindung der Tradition], während seinerseits der amerikanische Historiker Benedict ANDERSON zeigte, wie sich die Nationen im Erfinden einer gemeinsamen Vergangenheit als "imagined communities" [erdachte Gemeinschaften] selbst erfanden. [2]

Alle europäischen Völker und auch die USA haben im 19. Jh. ihre Nationen erdacht. Ernest RENAN, der große französische Religionswissenschaftler, hat in einer Rede an der Sorbonne schon 1882 sehr scharfsinnig bemerkt: "Eine Nation ist eine Seele, ein geistiges Prinzip. Zwei Dinge, die in Wahrheit nur eins sind, machen diese Seele, dieses geistige Prinzip aus. Eines davon gehört der Vergangenheit an, das andere der Gegenwart. Das eine ist der gemeinsame Besitz eines reichen Erbes an Erinnerungen, das andere ist das gegenwärtige Einvernehmen, der Wunsch, zusammenzuleben, der Wille, das Erbe hochzuhalten, welches man ungeteilt empfangen hat." [3]

Die europäischen Völker wurden im 19. Jahrhundert nicht müde, ihr jeweiliges Erbe an gemeinsamen Erinnerungen zu beschwören, um für die Gegenwart jene Schicksals- und Solidargemeinschaft zu schmieden, die man Nation nennt. Dabei aktivierte man Sagen aus grauer Vorzeit, germanische, gallische, slawische Heldentaten, verlorene und gewonnene Schlachten zwischen Hastings, Lützen, Trafalgar, Leipzig und Waterloo. [4] Kämpfe gegen den Islam auf dem Balkan, vor Wien, und die Reconquista dienten zur Identitätsfindung ebenso wie das Abschütteln von fremder Herrschaft, z.B. in den Niederlanden, in der Schweiz oder in Italien und Griechenland.

Dieser große Eifer, vergangene Taten, ertragenes Leid und gemeinsame Freuden zu reaktivieren, um daraus eine Nation zu formen und ihren Fortbestand für die Zukunft zu legitimieren, fand mehr oder weniger in allen Künsten lebhaften Ausdruck. So dienten Malerei, Plastik, Architektur, Literatur und Musik neben der Geschichtsschreibung als Mittel für die Schaffung einer Identifikation breiter Volksschichten mit der Nation, die - bei näherem Hinsehen - eine mythische Fiktion war und doch eine gewaltige, geschichtlich reale Macht entwickelte. [5]

Als besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jh. auch noch Versuche unternommen wurden, die Unterschiede zwischen Nationen auf Unterschiede zwischen Rassen und ethnischen Gruppen zurückzuführen, waren in den Köpfen und Herzen der Menschen gefährliche Ideologien und Emotionen entstanden. Und obwohl RENAN bereits 1882 ausdrücklich davor warnte, eine Identität zwischen dem Nationalstaat einerseits und bestimmten Rassen, Ethnien oder Religionen andererseits zu fordern, wissen wir, daß solche Irrtümer in Europa zu den blutigsten Kriegen und Massenmorden geführt haben, die in der Menschheitsgeschichte vorgekommen sind.

Eine Wiederbelebung des Nationalstaatsgedankens als einer optimalen Organisationsform menschlicher Großgruppen kann heute in Europa kein erstrebenswertes Ziel sein. Versuche in dieser Richtung haben noch in jüngster Vergangenheit in Nordirland, im Baskenland, in Zypern und auf dem Balkan zu politischen Morden und Bürgerkrieg geführt, aber den Menschen weder Frieden noch Wohlstand gebracht.

Doch es gibt in einigen EU-Mitgliedsländern auch zunehmend Stimmen, die offen eine Reaktivierung nationalstaatlichen Denkens fordern und im "Europa ohne Grenzen" eine Bedrohung ihrer nationalen Eigenschaften sehen.




3. Regionen, Nationen, Transnationalität - Alternativen zum Nationalstaat bisheriger Prägung?

3.1 Regionen

Zwei gegenläufige Tendenzen scheinen z.Z. den Nationalstaat in Frage zu stellen. Nachlassender Zwang zum Zusammenleben in Nationalstaaten führte zur Entstehung kleinerer, überschaubarer Territorien mit größerer innerer sozialer Homogenität, wobei diese unterschiedlich durch Sprache, Kultur, gemeinsamer Geschichte oder wirtschaftliches Interesse bestimmt sein kann. So verlief die Entwicklung in Spanien nach dem Franco-Regime, so nach Auflösung der Sowjetunion, Jugoslawiens und der DDR.

In die andere Richtung, zu einer größeren staatlichen Einheit, strebt die Europäische Union, die gerade damit beginnt, auch mittelosteuropäische Nationen in ihre Transnationalität miteinzubeziehen. Diese Vergrößerungstendenz scheint aber vielen Menschen in Europa eine "unmenschliche" Dimension anzunehmen, was dazu geführt hat, daß seit 1993 eigens ein "Ausschuß der Regionen" als beratendes Organ neben den bisherigen europäischen Institutionen tätig ist. Auch im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland wurde nach der Wiedervereinigung der Art. 23 völlig neu formuliert, um die Rechte der Länder in einem wachsenden Europa besonders abzusichern.

Brauchen wir Regionen unter der Ebene des Nationalstaates?

Es scheint im Wesen des Menschen zu liegen, daß er einen Teil seines Selbstgefühls seiner Identität auch mit überschaubaren Räumen verbindet, in denen er meistens von Kindheit an mit anderen Menschen gemeinsame Erfahrungen gesammelt hat und dadurch in besonderer Weise geprägt wird. In der deutschen Sprache wird dafür meistens der Begriff Heimat benutzt, wobei manchmal Heimat nicht nur räumlich, sondern auch geistig empfunden wird und beide nicht identisch sein müssen. Auch entdecken viele Menschen im Laufe ihres Lebens eine Wahlheimat, die die Bedeutung einer früheren Heimat verblassen läßt.

Heimat ist am besten zu fassen und zu beschreiben als ein ganz persönlicher Entwicklungsprozeß, der mit Orten zu tun hat, mehr noch mit Menschen, die einem vertraut sind, unter denen man sich wohl, das heißt zu Hause fühlt, und besonders mit der Wohnlichkeit des eigenen Kopfes, der eigenen Geisteswelt. Der ganz persönliche Entwicklungsprozeß liefert auch die Erklärung dafür, daß Heimat gleichzeitig existent und nicht mehr existent sein kann." [6]

Diese sehr persönlichen Bindungen der Menschen an bestimmte Regionen sind emotional sicher sehr wichtig, und sie zu schmälern hieße, den Menschen ihre Wurzeln zu nehmen. D.h., die Regionen bedürfen eher des Schutzes durch größere Einheiten, als daß sie selbst in der Lage wären, ihren Bewohnern ausreichend Schutz zu gewähren. Daraus folgt, daß man den Regionen die Pflege der Kultur und der Natur in überschaubaren Räumen überlassen sollte, das dient sicher der Identitätsfindung.



3.2 Nationen

Angesichts der eher negativen Erfahrungen, die die gesamte Bevölkerung Europas mit dem Nationalstaat des 19. Jh. im 20 Jh. hat machen müssen, sei die Frage erlaubt:

Brauchen wir den Nationalstaat im zukünftigen Europa noch?

Nach dem bereits vorher Gesagten, muß man sehr wohl unterscheiden, welchen Nationalstaat man meint, den Nationalstaat des 19. Jh. als eines Sammelbeckens für antifranzösische, antibritische oder antideutsche Gefühle oder einen Nationalstaat, wie er sich in Europa in der 2. Hälfte des 20. Jh. entwickelt hat.

Im ersten Falle wäre eine Reaktivierung verhängnisvoll, in seiner durch zwei Weltkriege geläuterten Form wird man kaum sehr schnell auf ihn verzichten können. Es sind vermutlich besonders zwei Qualitäten, welche die Nationalstaaten Europas am Ende des 20. Jh. besitzen, und deren Übertragung auf transnationale Einrichtungen und Verfahrensweisen sich viele Bürger Europas noch nicht vorstellen können.

Erstens der Schutz elementarer persönlicher und sozialer Rechte durch nationale Verfassungen und zweitens der hohe Grad der Identifizierung der jeweiligen Bevölkerung mit ihren nationalen Parlamentsentscheidungen.

So meint Ralf DAHRENDORF: "Verfassungen konstituieren Rechte. Rechte sind einklagbare Garantien. Sie sind nicht bloße Versprechungen, schöne Worte. ... Rechte verlangen daher Instanzen der Sanktionierung, einen Erzwingungsapparat. Alle drei klassischen Gewalten haben hier ihren Platz. Diese Gewalten aber bestehen vorerst in verläßlicher Form nur im Nationalstaat. Wer den Nationalstaat aufgibt, verliert damit die bisher einzige effektive Garantie seiner Grundrechte. Wer heute den Nationalstaat für entbehrlich hält, erklärt damit - sei es auch noch so unabsichtlich - die Bürgerrechte für entbehrlich." [7]

Natürlich darf man den Nationalstaat erst dann zu einer subsidiären Einrichtung machen, wenn die transnationale Europäische Union eine mindestens ebenbürtige Rechtsqualität aufweist. In dieser Richtung aufklärend zu wirken, ist sicher eine wichtige Aufgabe für Bildung. Da es hier um die Übertragung von Macht und deren legitime Anwendung geht, müssen sich die Bürger mit den neuen Einrichtungen auf transnationaler Ebene identifizieren und nicht Angst vor ihnen haben.

Das führt uns zum zweiten Vorteil der z.Z. gegebenen Nationalstaaten, die hohe Akzeptanz von Mehrheitsentscheidungen in den nationalen Parlamenten durch die jeweilige Bevölkerung. Hier liegt auch der Grund, warum sich besonders viele Menschen in Großbritannien so schwer tun mit der Vorstellung eines transnationalen europäischen Staates.

Der damalige britische Außenminister Malcom RIFKIND hat die Bedenken seiner Regierung in einer Rede vom 19.02.1997 u.a. so formuliert:

"Legitimität schafft man nicht allein durch Verträge und Konferenzen, sie muß über Jahre hinweg aufgebaut werden. Demokratie muß von unten kommen und nicht von oben. Was die Regime in Mittel- und Osteuropa vor acht Jahren zusammenbrechen ließ, war der Mangel an echter Legitimität. Jeder, der vorschlägt, Macht von alteingeführten Institutionen abzuziehen und auf neue zu übertragen, geht ein hohes Risiko ein und muß dafür gute Gründe haben. Das Problem liegt nicht nur darin, daß die Institutionen neu sind; sie sind auch in geringerem Maß legitimiert. Bei jeder Mehrheitsentscheidung in einer EU-Institution wird irgendwo eine demokratisch gewählte Regierung überstimmt, und die Folge ist, daß es in Deutschland Gesetze gibt, die zwar nicht die Zustimmung der deutschen Regierung gefunden haben, aber verabschiedet wurden, weil die italienische, die belgische und andere Regierungen ihnen zugestimmt haben ...

Wer behauptet, der Nationalstaat sei ein Auslaufmodell, liegt falsch; der Nationalstaat ist gesund und munter, und zwar genau deshalb, weil er sich geändert und angepaßt hat. Die Nationalstaaten Westeuropas sind heute nicht mehr die unzulänglichen, nationalistischen, potentiell feindseligen Länder des 19. und 20. Jahrhunderts; sie haben - wie alles andere auch - einen Modernisierungsprozeß durchlaufen und sind offener, weniger verschwiegen, flexibler und wahrscheinlich weniger mächtig als früher. Auch in puncto Außenpolitik hat sich der Staat verändert, ist viel offener für internationale Kooperation geworden." [8]

Drei Einwände gegen die britische Position seien erlaubt.

Erstens: Solange der Ministerrat der EU das letzte Wort bei europäischen Regelungen hat, ist natürlich die Frage nach seiner Legitimität und nach der Kontrolle seiner Macht berechtigt. Aber das ließe sich durch ein proportional zur europäischen Bevölkerung zusammengesetztes Parlament mit dem Recht auf umfassende Mitentscheidung verbessern.

Zweitens: Das englische Modell der freiwilligen Kooperation birgt leider auch die Gefahr des bequemen Nichtstuns in sich. Diese Situation hat kürzlich Peter SLOTERDIJK scharf pointiert: "Diese erste Europäische Gemeinschaft ist durch die Erfahrungen der jugoslawischen Krise über ihre Hohlheit belehrt worden. Man könnte geradewegs sagen: Während der Belagerung Sarajewos ging die politische Traumzeit Europas zu Ende. Indem die Westeuropäer der Zerstückelung Bosniens zwei Jahre lang fast untätig zusahen, schwankend zwischen Indifferenz und ohnmächtiger Empörung, wurden sie auf die obszönen Konsequenzen ihrer eigenen politischen Absence gestoßen. Europas bosnische Schande präsentiert die Rechnung für die Illusionen und Bequemlichkeiten einer ganzen Epoche. Nun zeigt sich, was es kostet, in einer dichten Welt mit Vakuum-Illusionen gelebt zu haben. Immerhin sprechen manche Anzeichen dafür, daß die blamable Widerlegung der ersten Europäischen Gemeinschaft den Auftakt zu einer Neuorientierung bedeuten könnte. Mag sein, daß nach 1989 ein anderes Europa zahnt; vielleicht war das relativ erfolgreiche Sarajewo-Ultimatum im Februar 1994 die erste effektive Geste einer neuen gesamteuropäischen Union, die zu mehr imstande wäre als zum Entsenden von Beobachtern und Tragbahren." [9]

Drittens: Die von RIFKIND vorgetragenen Bedenken gegen europäische Mehrheitsentschei-dungen verschleiern auch die Tatsache, daß man nationale Interessen weiterhin durch ein Vetorecht im Ministerrat sichern möchte. Auf der anderen Seite will man aber die Möglichkeit behalten, unpopuläre nationale Entscheidungen der EU anlasten zu können, wie das z.B. im Zusammenhang mit der Eingrenzung des Rinderwahnsinns geschehen ist. Dies ist ein gefährliches Spiel, das neue nationale Emotionen und Ängste wecken kann, und es ist kaum dazu geeignet, auch einem europäischen Parlament das Vertrauen entgegenzubringen, das man gegenüber dem nationalen hat.



3.3 Transnationalität

Vielleicht müssen wir uns in Zukunft daran gewöhnen, unsere Identität aus drei politisch-räumlichen Ebenen zu beziehen. Wir sind sicherlich geprägt durch unsere Region, durch unsere Nation, aber sind wir es auch als Europäer? Wir sind stolz auf unsere Vaterstadt, auf unser Mutterland, aber sind wir es auch auf Europa?

Brauchen wir eine europäische Identität, ein europäisches Wirgefühl?

Wie zu Beginn dieses Artikels schon dargelegt, entfachte der Mythos von der Nation als einer zu verteidigenden "Person" im 19. und 20. Jh. eine enorme Wirksamkeit in der Geschichte. Einen vergleichbaren Europamythos gibt es nicht, eher verbreitete Skepsis, zuweilen auch Mißmut über Brüsseler Bürokratenherrschaft. Und Europa als eine personifizierte Größe, die die Emotionen seiner Bürger erregen könnte, ist auch nicht in Sicht. Ein gewisser Druck von außen, zumindest in Westeuropa, zu einer gemeinsamen Identität zu finden, ist seit dem Zusammenbruch des Ostblocks verschwunden.

Auf der anderen Seite werden die meisten Staaten der EU bald eine gemeinsame Währung haben, deren Stabilität von finanzieller Disziplin und Solidarität unter den Mitgliedsländern abhängt. Oder denken wir an Deutschland, wenn es eines Tages an allen seinen Grenzen von Nachbarländern umgeben ist, denen es die Kontrolle über die Zuwanderung von Menschen überlassen muß. Bereits 1996 lebten in Deutschland 7,3 Mio Ausländer, das sind doppelt so viele Menschen wie z.B. die Republik Irland an Einwohnern zählt und rd. 9 % der gesamtdeutschen Bevölkerung.

Werden die südeuropäischen Staaten eine Erweiterung der EU nach Osten zustimmen, wenn sie dadurch eine Verringerung der Zahlungen aus den europäischen Ausgleichsfonds befürchten müssen?

Was geschieht, wenn sich die Amerikaner vom Balkan zurückziehen und der Einsatz von Menschen und Material für eine weitere Befriedungsaktion von wenigen EU-Mitgliedsländern getragen werden muß?

Spätestens, wenn im Namen Europas von seinen Bewohnern solidarisches Handeln verlangt wird- sei es nach innen oder nach außen- dann muß jeder einzelne, zumindest aber seine Repräsentanten, die Frage beantworten: Identifiziere ich mich mit den Werten, durch die konkrete europäische Aktionen begründet werden, oder nicht? Ohne einen Minimalkonsens über gemeinsame Werte kann ein Staat, eine Gemeinschaft oder eine Union nicht überleben.

Insbesondere dann, wenn Identifikation oder Solidarität mit Werten persönliche Opfer verlangt, wird die Frage nach der Rangfolge von Werten im konkreten Falle unausweichlich, d.h., wann sollen etwa Werte wie:

in welcher Situation einen höheren Rang haben? Man wird nicht alles gleichzeitig in maximaler Form bekommen können.

Wir müssen wohl bei der Schaffung einer transnationalen europäischen Identität ohne die beflügelnden Kräfte eines neuen Großreichsmythos auskommen. Auch wird der Bau des "europäischen Hauses" - eine Vision Gorbatschows - kein Nest zum Kuscheln sein, sondern eine mühselige Anstrengung, die umfassende Detailkenntnis in vielen Disziplinen verlangt und vielleicht mehr noch eine zukunftsorientierte politische Ethik. Das war auch Gegenstand einer sogenannten Carrefour der Europäischen Kommission am 7./8. Mai 1997 in Santiago de Compostela, wo namhafte Vertreter der Politik, der Religionen und der Wissenschaften zu folgendem Schluß kamen:

"Notwendig ist eine Ethik der Einigungspolitik vor allem im Hinblick auf das Europa, das noch geschaffen werden muß. Von den Verantwortlichen in den Institutionen, insbesondere im Parlament und in der Kommission, ist im Namen dieser Ethik zu verlangen, daß sie immer wieder die Prioritäten und die Motive für das Einigungswerk deutlich machen: Friede, Versöhnung, Toleranz, Solidarität, Gerechtigkeit, Freiheit." [10]




4. Konsequenzen für den Unterricht in Europa

Nicht ohne Stolz können wir Deutschen sagen, daß wir - nach den bitteren Erfahrungen der 1. Hälfte des 20.Jh. - in der zweiten Hälfte einen Staat aufgebaut haben, dessen ethisches Fundament die soeben genannten Qualitäten sind. Und daß dieses Fundament (noch) steht, ist auch der Leistung vieler Kollegen/innen im historisch-politischen Unterricht zu verdanken.

Deutschland - so sagte es der französische Historiker Alfred GROSSER in einer Fernsehsendung des Südwestfunks am 10. April 1998 - hat 1945 mit dem Begriff der Nation gebrochen und an deren Stelle eine politische Bildung gesetzt, deswegen sei es innerhalb der Europäischen Union z.Z. das einzige Land, das auf den Begriff der Nation verzichten könne.

Anstelle der Pflege eines Nationalgefühls bemühen wir uns, eine neue politische Identität zu finden, deren Inhalt unsere Verfassung ist. Dafür gibt es in der deutschen Sprache seit 1979 den Begriff "Verfassungspatriotismus". Dies ist kein neues Gewand für den altbekannten Nationalismus, sondern:

"Verfassungspatriotismus" schlägt also den Bogen zu einem ursprünglicheren Verständnis von Patriotismus, das älter ist als der Nationalismus und die Nationalstaatsbildung in Europa. Er erhält seinen zentralen Sinn in der "Verknüpfung des Patriotismus mit der bürgerlichen Freiheit und mit der Verfassung." [11]

Ist nun "Verfassungspatriotismus" ein Modell für Europa?

Wir haben zwar in der Europäischen Union seit 1992 (Maastricht) einen Unionsvertrag, aber eine Verfassung, auf die wir stolz sein könnten, ist das (noch) nicht.
Ist es nun Aufgabe der politischen Bildung des Unterrichts an den Universitäten und Schulen, einen Weg vorzubereiten, der zu einer europäischen Verfassung führt?
Diese Frage wird vermutlich in Großbritannien Angst und Schrecken auslösen. Das ist verständlich, solange man sich unter einer Europäischen Identität nichts vorstellen kann, das der britischen mindestens ebenbürtig ist.

Nach der bereits erwähnten Rede Václav HAVELS im Europäischen Parlament, im März 1994, in der er ein vertieftes Nachdenken über eine europäische Identität forderte, hat sich die Europaunion Deutschland seit November 1994 dieser Aufgabe angenommen und nach zahlreichen Diskussionen in Kongressen und Arbeitsgruppen eine Charta der Europäischen Identität vorgelegt. Sie umfaßt unter den folgenden sechs Kapiteln alle wichtigen Ziele und Qualitäten für eine Europäische Union, mit der sich jeder europäische Bürger identifizieren kann und auf die er auch stolz sein könnte.

  1. Europa als eine Schicksalsgemeinschaft
  2. Europa als eine Wertegemeinschaft
  3. Europa als eine Lebensgemeinschaft
  4. Europa als eine Wirtschafts- und Sozialgemeinschaft
  5. Europa als eine Verantwortungsgemeinschaft
  6. Wesensmerkmale einer europäischen Identität

Eines dieser Wesensmerkmale heißt

Sir Ralf DAHRENDORF wurde 1988 in einem Ausschuß des Deutschen Bundestags gefragt, welche Bedeutung die politische Bildung für den Bestand und die Ausprägung unserer Demokratie habe, seine lapidare Antwort war:

"Information und Persuasion." Information vermittle Kenntnisse über Institutionen, Organisationen, Prozesse. Ohne solche Kenntnisse sei wirksame Teilnahme nicht möglich. Persuasion diene der inneren Teilnahme, der Zustimmung zum "Geist der Gesetze". Diese habe etwas zu tun mit dem, was man in Deutschland gerne Legitimität nenne. Und er fuhr fort: "Dennoch: Der Bestand der Demokratie hängt nicht an der politischen Bildung, sondern am Funktionieren der Institutionen. Die Ausprägung der Demokratie, also Art und Grad der Teilnahme, hat mit politischer Bildung etwas zu tun." [12]

Natürlich bezog sich DAHRENDORFS Meinung auf eine bereits bestehende Demokratie. Aber ist es verboten, daß Bildung auch Überzeugungsarbeit (Persuasion) leistet in Richtung auf eine noch zu bauende?

"Einer der frühen Präsidenten der EG-Kommission, Jean Rey, der wie damals viele belgische Politiker (Spaak, Dehousse, Harmel) ein begnadeter Meister der Vermittlung war, pflegte von der Gemeinschaft zu sagen, sie sei mit einer Kathedrale vergleichbar, deren Baumeister eines Tages vergessen sein würden, weil jede Generation an ihr weiterbaue, wohl wissend, daß sie den Abschluß nicht erleben werde. Was dabei oft übersehen wird, sagen uns die Kunsthistoriker: Solche Bauwerke 'in being' haben die Menschen in jeder Bauphase beeindruckt, nicht wegen der Masse an bewältigter Materie, sondern durch die Ideen, die in die Konstruktionen eingegangen sind und durch die eingestiftete Zuversicht, daß es richtig ist, diese Arbeit zu tun." [13]

Mit dieser Zuversicht haben die Partner aus dem EDUVINET- Projekt, weitere Autoren und viele Kollegen/innen in den Schulen begonnen, ihren Beitrag zur "Kathedrale" Europa zu erbringen.














Bibliographie






















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